Ich habe etwas gezögert, zu antworten, aber mit dem zweiten Text zum Thema von Sebastian Bolz, drängt es mich nun doch, einige Gedanken beizusteuern. Mein Kommentar bezieht sich auf beide Texte – plus der Kommentare zum ersten Artikel.[1] Ein Festhaltenwollen am institutionellen Status quo – diesen Willen lese ich aus den Thesen und der Diskussion zu den „Anforderungen an die Musikwissenschaft in Zeiten sinkender Studierendenzahlen“ – ist sicherlich mit Blick auf einen überschaubaren Arbeitsmarkt für Musikwissenschaftler nachvollziehbar und ehrenwert. Ein Klammern an das Bestehende aus Gründen des Prestiges, der Sicherung akademischer Pfründe, aus Angst vor gesellschaftlichem und interdisziplinärem Bedeutungsverlust ist es freilich nicht. Geforscht wird, meine ich, immer, sobald die Notwendigkeit dazu gegeben ist, dort wo Aufklärungs- oder Verstehensbedarf besteht. Wissenschaftliche Neugier sucht sich ihren Weg, schon immer.
Vor kurzem haben Moritz Kelber und ich in einem Artikel mit vier „Provokationen“ nach Gründen für den Abwärtstrend gesucht, in dem sich die Studierendenzahlen der Musikwissenschaft seit Jahren befinden. Diesen Diskussionsvorschlägen möchte ich mit diesem Text noch einige weitere Punkte hinzufügen. Es handelt sich um Zuspitzungen beim Versuch zu verstehen, wie wir in die aktuelle Situation gekommen sind und wie wir sie möglicherweise für die Musikwissenschaft nicht nur als Studienfach, sondern als akademische Disziplin in eine Trendwende ummünzen könnten. Insofern betreffen sie einerseits Punkte, die innerhalb des Fachs zu diskutieren wären, andererseits Aspekte der Außenwirkung.
Bei diesem Blogbeitrag geht es um die Zukunft der Musiktheorie … Nein, fangen wir noch einmal an: Bei diesem Beitrag geht es darum, wie neue Datenquellen und die Künstliche Intelligenz die weitere Entwicklung der Theoriebildung beeinflussen könnten.
Anforderungen an die Musikwissenschaft in Zeiten sinkender Studierendenzahlen – Vier Provokationen
von Moritz Kelber und Sebastian Bolz

Laut einer Studie des Musikinformationszentrums ist die Zahl der Studierenden im Fach Musikwissenschaft in Deutschland seit dem Jahr 2000 um 36 % gesunken. Dieser Trend ist alarmierend, gerade weil die Gründe dafür schwer festzumachen sind. Auf dem Weg der Ursachenforschung haben wir als Redaktion von musiconn.kontrovers vor einigen Monaten mit vier zum Teil gegenläufigen „Provokationen“ innerhalb der Fachgruppe Nachwuchsperspektiven der Gesellschaft für Musikforschung eine Debatte angeregt. Nun wollen wir diese Thesen auf musiconn.kontrovers einer breiteren Fachöffentlichkeit zur Diskussion stellen.
Perspektiven für die Musikforschung im 21. Jahrhundert? Artistic Research in Music und Musikwissenschaft
von Wolf-Georg Zaddach
Artistic Research ist ein verhältnismäßig junges Forschungsfeld, das insbesondere seit der Bologna-Reform intensiv diskutiert und erprobt wird. Artistic Research in Music, oder Artistic Music Research, hat – zwischen Kunst und Wissenschaft bzw. Theorie[1] – ein ganz bestimmtes Erkenntnisinteresse: Es geht um die konkreten individuellen Erfahrungs-, Entscheidungs- und Deutungsprozesse beim Aufführen, Gestalten und Entwerfen, Komponieren und Arrangieren, Produzieren und Kommunizieren von Musik und Klängen. Das Setting ist dabei unkonventionell: Es ist ein in Forschungskontexte und deren Anforderungen eingebetteter künstlerischer Prozess, in welchem sich Künstler:innen kreativ mit Objekten, Situationen und Konstellationen auseinandersetzen und diesen Prozess und sein Ergebnis wiederum in einer sinnlich wahrnehmbaren Form (etwa Recordings, Performances) sowie gesprochenem Wort und/oder geschriebenem Text dokumentieren, reflektieren und vermitteln.
|Re-Lektüren| R. Murray Schafer, The Soundscape. Our Sonic Environment and the Tuning of the World
von Magdalena Zorn
Es gibt Bücher über das Universum des Klingenden, die auf alles anwendbar zu sein scheinen, was in der menschlichen Wahrnehmung tönt, rauscht, wispert oder stottert: von der komponierten Musik über den Wind bis zu den Geräuschen der Motoren. Eine solche Schrift über den Klang und die Hörenden, die einen derart weiten Geltungsbereich beansprucht, stellt R. Murray Schafers The Soundscape: Our Sonic Environment and the Tuning of the World aus dem Jahr 1977 dar.
Die Einladung, die Blogserie Can the History of Music Theory Be Decentered?, die 2020 auf dem History of Music Theory Blog erschien, in deutscher Übersetzung auf dem musiconn.kontrovers Blog zu veröffentlichen, bringt eine interessante Herausforderung mit sich. Selbstverständlich gibt es wichtige Parallelen im deutschen und amerikanischen musiktheoretischen Diskurs, und die Perspektive, eine weiterführende Diskussion anzukurbeln, erscheint verlockend. Aber zunächst stehen ganz eindeutig die Eigenheiten der US-Kultur im Vordergrund, die ursprünglich zu diesen Überlegungen zu einer Dezentrierung geführt haben. Da wäre zuallererst die Black-Lives-Matter-Bewegung zu nennen, und praktisch im gleichen Atemzug die Regierung von Donald Trump, die in den vergangenen Jahren in den USA den politischen und kulturellen Ton gesetzt hat. Sicherlich nicht zu Unrecht hat Ta-Nehisi Coates Trump provokant als Amerikas „ersten weißen Präsidenten“ bezeichnet – als den Nachfolger Obamas nämlich, der sich ganz ausdrücklich (und nicht nur unter der Hand) um die Belange seiner vorwiegend weißen Wählerschaft kümmerte.
Das Gerücht, dass die deutsche Musiktheorie ein Problem habe, geistert schon seit einer ganzen Weile durch die Hochschulflure der Nation. Zu altbacken, zu männlich seien die in dieser Disziplin vertretenen Ansichten. Derlei Vorurteile entkräftet das kürzlich erschienene Buch Schenkerian Analysis. Analyse nach Heinrich Schenker leider nicht.
|Rezensionen| „Sonderfall“ Editionen? Zur Rezension von wissenschaftlichen Ausgaben musikalischer Werke
von Ulrich Konrad
Kritik und Krise teilen sich die Wortherkunft, nämlich griechisch krínein mit den Bedeutungen „scheiden“, „sondern“, „sichten“, „unterscheiden“. ‚Krise‘ etabliert sich als medizinisches Fachwort in der Frühen Neuzeit zur Bezeichnung der Phase einer Infektion, in der sich die Krankheitsabwehr ereignet und sich ein positiver oder negativer Ausgang des Geschehens entscheidet. Auch die ‚Kritik‘, die aus einer recensio, aus der Musterung eines Erzeugnisses hervorgeht, führt zu einer Entscheidung, in diesem Falle über den qualitativen Wert der Sache. Wer rezensiert, konkret, wer die Rezension eines musikwissenschaftlichen Produkts vornimmt, prüft nach in der Regel verbreiteten und akzeptierten Kriterien dessen Form und Inhalt in der Absicht, einen Befund zu erheben, aus dem sich eine Einschätzung von Rang und Bedeutung des Produkts ergibt.
|Rezensionen| Kann RIDE auch Musikwissenschaft? Reviews musikwissenschaftlicher Editionen im Open-Access-Journal RIDE
von Torsten Roeder

RIDE ist ein peer-reviewtes Online-Journal für wissenschaftliche Rezensionen, das auf Digitale Editionen und Ressourcen spezialisiert ist. In mittlerweile vierzehn Bänden setzen sich die Rezensent*innen mit den digital publizierten Erzeugnissen geisteswissenschaftlicher Editionsvorhaben, Textsammlungen und Toolentwicklung auseinander. Fachlich besteht eine durchaus erwünschte Vielfalt, während in Themenbänden systematisch vergleichbare Gegenstände rezensiert werden (z. B. Briefeditionen). Unter den bislang 75 Rezensionen befasst sich immerhin eine Handvoll mit musikwissenschaftlichen Projekten, so dass die Frage angemessen erscheint, welche Rolle RIDE für die Musikwissenschaft aktuell spielt oder in Zukunft spielen könnte.