Prinzip Resterampe – Anmerkungen zur Open Access-Strategie der Community

von Reiner Nägele

Zweifelsohne ist die Rolle der klassischen, der ortsgebundenen Bibliothek im internationalen Wissenschaftssystem nicht mehr eindeutig bestimmt und nicht mehr primär über den Bestand zu rechtfertigen. Digitalisierte und frei verfügbare Medien sind nun mal unmittelbar mit ihrer Präsenz im Netz ortsunabhängig.

Die DFG hat diesem Paradigmenwechsel mit der Neueinrichtung der Fachinformationsdienste Rechnung getragen. Sie fördert nicht mehr den konventionell vorsorgenden und umfassenden Bestandsaufbau, sondern vorzugsweise den Erwerb von E-only sowie digitaler Medien resp. Forschungsdaten generell und den Aufbau von Forschungsinfrastruktur. Konkret bedeutet dieser Auftrag nichts anderes als die Subventionierung des Aufbaus und Betriebs einer Virtuellen Bibliothek. Im Fach Musikwissenschaft ist dies die ViFaMusik.

In ihrer komplexen Struktur als Portal, Rechercheinstrument, Katalog und Bibliographie, als Kommunikations- und Informationsplattform, als Medien- und Datenspeicher löst diese virtuelle Einrichtung somit die klassische Bibliothek im Rahmen des FID-Auftrages in voller Funktion ab.

Eine Bibliothek betritt der Forschende vorzugsweise der dort gelagerten und bereit gestellten Medien wegen, die für seine aktuellen Interessen relevant sind. Die wissenschaftliche Bedeutung einer (noch nicht digitalisiert bereit gestellten) Sammlung ist deshalb relational zur Bedeutung der Bibliothek als Forschungsinfrastruktur. Die Verfügbarkeit von Nachweisinstrumenten und der Kommunikationsfaktor sind nachgeordnete Qualitäten.

Schauen wir uns das Portfolio der ViFaMusik im Vergleich zu den Aufgaben einer analogen Bibliothek mit ihren klassischen Aufgaben an:

  1. Dem Aufgabenfeld „Bestand“ entspricht in der digitalen Bibliothekswelt das Harvesting, Hosten, Langzeitsichern und Bereitstellen von Forschungsdaten bzw. digitalem Content.
  2. Die Nachweisinstrumente finden sich im Metadatenpool der ViFa repräsentiert wieder (etwa im „Europäischen Musikkatalog“, der BMS, der EZB)
  3. Im kommunikativen Segment (Lernort, Forschungsaustausch) finden wir Themenportale, Informationen über Experten und Institutionen, Veranstaltungskalender usw.

Tatsächlich gibt es zur „analogen“ Bibliothek hinsichtlich des Aufgabenspektrums keine erkennbare Differenz. Die ViFaMusik ist somit in der Lage, diese Aufgaben als verlässlicher Hort evaluierter Fachinformation vollwertig in der digitalen Welt der Informationsvermittlung wahrzunehmen.

Doch die wichtigste Komponente, die einer bibliothekarischen Institution erst Bedeutung und Reputation verschafft, nämlich Bestandsaufbau und Bereitstellen forschungsrelevanten Contents mit aktuellem Bezug, bleibt der ViFaMusik bislang verwehrt: Premiumpublikationen wie z.B. Dissertationen als die aktuellsten Forschungsveröffentlichungen, Zeitschriftenbeiträge und ebenso Kongress- und Hochschulschriften werden nach wie vor in klassischen Print-Verlagen oder jetzt neuerdings bei Schott-Campus (http://schott-campus.com/) publiziert. Und die Vereinszeitschrift „Die Musikforschung“ ist wie eh und je ein Printmedium.

Als Content für die ViFaMusik wird seitens der FID-Vertreter der Community alternativ vorgeschlagen: Anreicherung um Digitalisate schwer zugänglicher, oder besonders „gewichtiger“ Arbeiten aus der Geschichte der Musikwissenschaft. Bereits gedruckt Vorhandenes nun auch digital verfügbar zu machen ist gewiss ein wünschenswertes Ansinnen. Aktueller, forschungsrelevanter Content sieht jedoch anders aus. Natürlich bauen wir (die ViFa-Verantwortlichen der BSB) einen E-Medienpool auf, indem wir Lizenzen erwerben, also teuer dafür bezahlen, und auch das Schott-Campus-Angebot werden wir in unseren Recherchesystemen nachweisen.

Es gibt aber einen gravierenden Unterschied: Was originär beispielsweise mit Unterstützung des Zentrums für Elektronisches Publizieren (https://www.bsb-muenchen.de/zep.html/) auf dem ViFa-Dokumentenserver bereitgestellt wird, erzeugt Eigentum, mithin bedeutungsrelevanten Content. Wer dann recherchiert, recherchiert und nutzt das publizierte Medium über diese Plattform. Wenn ich anderswo erschienene E-Medien erwerbe und über die Bibliothekskataloge oder ViFa bereit stelle (zumal open access-Angebote), dann ist die ViFa letztlich nicht mehr als ein Nachweis- und Bereitstellungsinstrument unter vielen – in Konkurrenz zu den Verlagsseiten oder den Suchmaschinen im Internet.

Solange freilich die Pforten ihrer höchstrangierten Journale von den Forschenden regelrecht eingerannt werden, solange haben die Verlage die Möglichkeit, die Einnahmen, die ihnen nun am Ende der Produktionskette wegfallen, gleich am Anfang vom Autor oder einem Drittmittelgeber einzustreichen (Lohmeier/ Mittelbach, in: ZfBB, 4-5/2014). De Gruyters „publoris“ und Schott „Campus“ antizipieren mit ihrem Geschäftsmodell des open access letztlich nur die absehbare Entwicklung, dass staatliche Zuschüsse bald nicht mehr für den Druck, sondern nur noch für die digitale Aufbereitung von Textdateien fließen werden. Und dass das keine Utopie ist, zeigt das Beispiel Schweiz: Dort gibt es bereits seit April 2014 ein entsprechendes Förderreglement des Nationalfonds.

Das Bekenntnis zu Open access nach dem Motto „open data means better science“ bedeutet zwar letztlich ein Bekenntnis zu einem liberalisierten Forschungsinformationssystem im Gegensatz zu einem dem Kommerz verpflichteten, deliberalisierten der herkömmlichen Verlage. Die Beispiele De Gruyter und Schott aber machen deutlich: In der Praxis motiviert immer noch der Herdentrieb.

Eine Anmerkung zum Argument der scheinbar notwendigen Reputation: Unbestritten ist Schott ein Label mit Weltgeltung. Nun ist es aber mit der Reputation so, dass dies kein naturgesetzlich absoluter, sondern ein geliehener Vertrauenswert ist, der auch zu entziehen ist. Wenn wir ausschließlich das, was kommerziell nicht unterzubringen ist, was digital zweitverwertet oder gar marginal ist („Spitzenversorgung“ im euphemistischen DFG-Jargon), wenn wir also ausschließlich solches Informationsgut in den ViFa-Container aus- bzw. ablagern: Dann zementieren wir ein fatales Ranking, das in Wirklichkeit ausschließlich durch unsere Akzeptanz und unser affirmatives Handeln existiert.

Nehmen wir dagegen die ViFaMusik gemäß den DFG-Förderrichtlinien ernst, dann macht ein Paralleluniversum mit gleichen oder vergleichbaren, konkurrierenden oder separaten prestigeträchtigen Angeboten durch die Gesellschaft für Musikforschung (als führende Fachvereinigungen und Partner der ViFaMusik beispielhaft genannt) auf der Vereins-Homepage oder auf kommerziellen Publikationsportalen nicht nur keinen Sinn, sondern ist geradezu kontraproduktiv.

Die Grundfrage, möglicherweise existenzielle Frage an die ViFaMusik lautet deshalb: Soll die Virtuelle Fachbibliothek weiterhin vorzugsweise „nur“ als technische Spielwiese genutzt werden, als Experimentierfeld für vereinzelt realisierte innovative Präsentationsformen wie das HmT und betrieben als Abladeplatz für Sonstiges und Vermischtes – Prinzip Resterampe -, ausgestattet mit „social media“-Features? Oder soll die ViFaMusik Ihrem umfassenden Anspruch als zentrales Fachinformationssystem für die Musikwissenschaft mit forschungsrelevantem Content gerecht werden? Um diesen Anspruch zu erfüllen, müsste dann freilich eine Integration der Online-Aktivitäten der Community erfolgen, und nicht nur eine Parallelisierung, und es müsste vor allem endlich zu einem Content mit bedeutenden aktuellen Publikationen in der ViFaMusik führen in konsequenter Umsetzung der „Golden“ oder „Green Road to Open Access“.

Dr. Reiner Nägele
Leiter der Musikabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek

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