„Wege der Musikwissenschaft“ lautet der Titel des XVI. Internationalen Kongresses der Gesellschaft für Musikforschung, der vom 14. bis 17. September an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz stattfinden wird. Die Tagung will laut Kongressankündigung ein Forum sein für „Selbstreflexion“, für eine „Standortbestimmung“ und für eine „Diskussion zukünftiger Wege der Musikwissenschaft“.
Eine solch kritische Selbstbefragung und gegebenenfalls Neujustierung ist angesichts des längst real gewordenen digital turn in der Forschungslandschaft – besonders prekär im Bereich der Forschungsförderung – überfällig. Auch wenn Selbstbefragungen und Zweifel am Sinn der überkommenen disziplinären Methoden und Erkenntnisziele die Geschichte der akademischen Musikwissenschaft von Anbeginn an begleiten[1], so rührt die aktuell zu führende Diskussion doch um Einiges mehr an der gegenwärtigen Legitimation (und somit wohl auch künftigen Alimentation) unseres Faches im Wissenschaftskanon.
Die aktuelle Neugründung der “Initiative Digitale Musikwissenschaft” in der Gesellschaft für Musikforschung, das Edirom-Projekt Digitale Musikedition, die neu eingerichtete Universitätsprofessur für Musikwissenschaft/Digitale Musikedition/Digital Humanities an der Universität Paderborn, die in den vergangenen Jahren intensiv geführten Diskussionen mit führenden Fachvertretern zum Auf- und Ausbau einer Virtuellen Fachbibliothek Musikwissenschaft (ViFaMusik) sowie die Fachdiskussionen, Workshops und Roundtables zur Konstitution des DFG-geförderten Fachinformationsdienstes (FID) Musikwissenschaft an der Bayerischen Staatsbibliothek sind nur die auffälligsten Markzeichen eines Wandlungsprozesses, der sich nicht bloß in technischen Weiterentwicklungen manifestiert, sondern grundsätzliche Fragen nach Inhalt, Methode und Erkenntnisinteresse unseres Faches aufwirft.
Die nicht geringe Schwierigkeit, als Verantwortlicher für den FID Musikwissenschaft, führende Vertreter unseres Faches davon zu überzeugen, die ViFaMusik nicht nur als periphere technische Spielwiese oder als Abladeplatz für „Sonstiges“ und „Vermischtes“ zu nutzen[2]; sondern diese kostenfreie Plattform und zugleich höchst leistungsfähige und nachhaltig gesicherte digitale „Werkbank“ substantiell zu instrumentalisieren: Dieses scheinbare Unvermögen ist vielleicht doch nicht (entgegen gelegentlicher Vermutung), einem resistenten Konservatismus und prinzipieller Fortschrittsverweigerung saturierter Fachvertreter geschuldet, sondern verweist auf jene „gewachsenen Tendenzen in Themensetzung, Forschungsschwerpunkten und Interessefeldern, Fragestellungen, Methodiken und Erkenntniswegen des Faches“, die mit den Konzepten und Verfahren und den damit verbundenen Erkenntniswegen der Digital Humanities möglicherweise nicht kompatibel sind.
Werkzeuge („Tools“), herkömmliche wie digitale, sind Hilfsmittel, die ich verwenden oder auch ignorieren kann, sofern ich auch auf anderem Wege mein Ziel erreiche. Die mit den digitalen „Hilfsmitteln“ einhergehenden veränderten Zugriffsweisen auf Quellen und die gewandelte Wissenskommunikation und Wissensorganisation dagegen verweisen auf die zentrale Frage: Ist denn das Ziel selbst noch zeitgemäß?
Um diese Frage beantworten zu können, gilt es zunächst, dieses Erkenntnisziel zu benennen. Ich stütze mich hierbei auf die Aussagen dreier führender Vertreter unseres Faches, die in dem 2007 veröffentlichten Band „Musikwissenschaft. Eine Positionsbestimmung“[3] dokumentiert sind.
Ulrich Konrad postuliert, dass die historische Musikanschauung (fußend auf Augustinus und Boethius) die Dignität der Musik jenseits bloß sinnlicher Qualität durch die Annahme einer „metaphysischen Dimension“ sichere[4], die einst in „engem Zusammenhang mit Weltanschauung und Menschenbildung“[5] stand. Dies entspricht einem eindeutig theologischen Auftrag; und der Musikwissenschaftler, so ist zu schließen, der über die (Kunst-)Musik jener vergangenen Kulturen als historisches Phänomen reflektiert – wohlgemerkt: nicht als gegenwärtiges -, rechtfertigt sein priesterliches Tun mit eben jener Dignität, die es unbeirrt nach wie vor zu behaupten gilt. Wen wundert’s, dass der Blick in die Gegenwart aus Sicht des Forschers eine „extreme Verlagerung des Musikverständnisses auf unreflektiertes Tun und hedonistische Wahrnehmung kennzeichnet“[6] und zu der Schlussfolgerung führt, dass die Musikwissenschaft „als genuin historisches Fach […] heute primär nur mehr mit einem begrenzten Ausschnitt der musikalischen Welt befasst ist, dem der Kunstmusik“, der „in der Lebenswirklichkeit vieler Menschen nicht mehr vorkommt“. Erstaunlicherweise schürt dies beim Autor nicht Zweifel, ob seine Fragestellung an den forschenden Gegenstand noch angemessen ist, oder nicht, sondern führt zu einem Vorwurf an die real existierende Lebenswirklichkeit der Zeitgenossen.
Halten wir für das Verständnis dessen, was historische Musikwissenschaft offenbar ausmacht, fest: 1. Es gibt eine (historisch verbürgte) metaphysische Dimension, die es zu reflektieren und zu verkünden gilt; dies hat der Musikforschende zu leisten, der damit ein quasi priesterliches Amt ausübt. 2. Die Dignität, die den Forschungsgegenstand als solchen rechtfertigt, wird ausschließlich der Kunstmusik zugestanden, die 3. in unserer heutigen Lebenswirklichkeit nur noch eine höchst marginale Rolle spielt.
Laurenz Lütteken schließt sich Konrads Verständnis uneingeschränkt an: „Das Kerngeschäft der Musikwissenschaft ist nun einmal die denkende Auseinandersetzung mit dem wunderlichen Phänomen der Musik“[7], und er präzisiert als konkreten Hauptauftrag der historischen Musikforschung die „Problemgeschichte des Komponierens. […] Dieser Impetus hat die Wissenschaft nachhaltig geprägt und ist heute, mehr denn je, verantwortlich für das Erkenntnisinteresse, das sie leitet.“[8] Insofern machen die Editionsvorhaben von Kompositionen, die ex cathedra als würdig deklariert wurden und werden, als vielleicht wichtigste Aufgabe der historischen Musikwissenschaft Sinn; zugleich markieren bedeutende Editionsvorhaben auch den Beginn der akademischen Musikwissenschaft im 19. Jahrhundert. Wenig überraschend klassifiziert schließlich auch Lütteken unser Fach im Untertitel zu seinem Beitrag als „marginale Wissenschaft“.
Ergänzend zu Konrads Definitionen ist nach Lütteken ein 4. Punkt hinzuzufügen: Das Forschungsinteresse gilt der Kompositionsgeschichte, mit allen erkenntnistheoretischen Konsequenzen: Der hierfür notwendigen geschichtlichen Kontinuität, einer eindeutigen Identität des komponierten Werkes trotz möglicher unterschiedlicher Interpretationen (denn dadurch erst wird es traditions- und geschichtsfähig), und einer Materialität als „Text“, also der schriftlichen Präsenz, die als solches untrennbar mit der Person des Schöpfers verbunden ist.
Hans-Joachim Hinrichsen betont im Einklang mit seinen Koautoren als Hauptaufgabe der Musikwissenschaft ebenfalls das Sichtbarmachen der „Geschichtlichkeit der Musik“[9], fügt aber noch als zu integrierenden Teil die Rezeptions- und Interpretationsgeschichte hinzu.
Konfrontieren wir nun diese Parameter mit den Anforderungen und Optionen einer digitalen und nicht bloß digitalisierten Forschung, so stoßen wir fast bei jedem Punkt auf grundsätzliche Differenzen.
Die digitale Wissenschaft verlangt Offenheit und Transparenz sowie die Bereitschaft, Daten und Ideen in einem möglichst frühen Stadium der Erkenntnisgewinnung mit anderen zu teilen. Dies aber widerspricht nicht nur der wissenschaftlichen Anerkennungskultur. Wenn wir Musikgeschichtsforschung im Sinne von Punkt 1 als hermeneutische Disziplin verstehen und diese nicht auf eine „penibel betriebene Paläographie und Quellenbeschreibung“ reduzieren wollen, befasst nur noch mit der „Schreib- und Umschreibintention von Einzelwerken der Musik“[10], ist die Forderung nach frühest möglichem gemeinschaftlichem „Verstehen“ im Forschungsprozess in letzter Konsequenz undenkbar, gleichgültig, ob nun auf Forschungsplattformen als gemeinschaftliches Schreiben unter Einbeziehung der Expertise anderer Personen (interactive writing) oder als „group writing“ realisiert. Erkenntnis eines Quellenwerkes wäre jedenfalls kein autoritatives Endprodukt mehr, manifestiert im abschließenden Forschungsbeitrag eines Autors, sondern ginge im Prozess auf. Dass dies ein vollkommen anderes als das oben dokumentierte Verständnis von musikwissenschaftlichem Erkenntnisgewinn voraussetzen würde, muss nicht betont werden; um im zuvor skizzierten Bild zu bleiben: Theologische Wahrheit generiert sich niemals demokratisch, und am Ende ist es immer eine Autorität, die diese verkündet.
Freilich ist schon der Werkbegriff der deutschen Musikwissenschaft als „Erbschaft idealistischer Ästhetik“[11] höchst problematisch. Während andernorts in den Geisteswissenschaften die zunehmende Erosion der Idee von „Kultur-als-Text“ zu epistemologischen Konsequenzen in der fachwissenschaftlichen Diskussion führt[12], klammert sich die deutsche Musikwissenschaft nach wie vor an die als kulturrelevant behauptete Schriftlichkeit und dem damit einhergehenden Werkbegriff, um die seit dem 19. Jahrhundert betriebene Narratisierung einer idealisierten Kompositionsgeschichte fortzuschreiben. Auch wenn zunehmend mit Hilfe digitaler Werkzeuge möglichst viele Fassungen oder Varianten eines Werkes veröffentlicht werden, so ist doch nach wie vor der ahistorische Gedanke eines „Urtextes“, einer „Uridee“ als sinnstiftendes Konstrukt latent. Wie anders wäre ein auf die Geschichtlichkeit der Kompositionen fixiertes Erkenntnisinteresse zu rechtfertigen?
Nun wäre dagegen prinzipiell nichts einzuwenden, zumal es ja faktisch akademische Realität ist. Dass es aber auch anders gehen kann, zeigt beispielhaft die amerikanische Forschung. Der aber wird aus Sicht der deutschen Musikwissenschaft genau aus diesem Grund der „methodische Offenbarungseid“[13] unterstellt: „Die Vorhaltung etwa, Musikwissenschaft beschäftige sich nicht hinreichend mit dem musikalischen Alltag, ist dabei in mehrfacher Hinsicht entlarvend. Denn zum einen zeigt die wesentlich amerikanische Forschung zur Popularmusik die eigenartige Tendenz, die Erzeugnisse einer kommerziell kalkulierten, allein auf massenhafte affektive Wirkung angelegten Musikkultur mit den Ansprüchen des Kunstwerks in Einklang bringen zu wollen, sie also vollkommen sinnlos in den Kanon des Etablierten aufzunehmen.“[14]
Ein entlarvendes Urteil: Das Indiz des „kommerziell Kalkulierten“ soll die Teilnahme am Kanon der „etablierten“ Kunstwerke kategorisch ausschließen; kurzum, was gefällt, ist verdächtig. Der Kanon (welcher?) wird ahistorisch als für alle Zeiten gesetzt behauptet. Mit der Realität unseres Konzertlebens und der von Konrad beklagten zunehmenden Irrelevanz musikwissenschaftlicher Kompetenz im gesellschaftlichen und kulturellen Dialog, hat dies nichts zu tun.
Wenn freilich das überkommene Erkenntnisinteresse in unserem Fach nur noch trotzig larmoyant und das Marginale des Faches im Kontext der Kultur- und Humanwissenschaften in gereiztem Ton und mit überheblichem Gestus zu rechtfertigen ist[15], wäre es tatsächlich an der Zeit, nicht die konsumistische und durchökonomisierte Gegenwart in Abgrenzung zum idealisierten fachhistorischen Paradies des vergangenen Jahrhunderts zu bejammern, sondern es wäre das Erkenntnisziel unseres Faches und die damit verbundene kulturelle, kulturpolitische und gesellschaftliche Relevanz neu zu überdenken – im Hinblick auf eine Lösung und nicht mit der Absicht, die Gegenwart zugunsten einer Fixierung des Überkommenen zu verdammen.
Dr. Reiner Nägele
Leiter der Musikabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek
[1] „Die Rückführung der musikalischen Wissenschaft in den universitären Kanon um und nach 1900 [krankte] an dem Vorbehalt, es nicht eigentlich mit Wissenschaft, sondern mit Musikantentum zu tun zu haben“ [Laurenz Lütteken: „Und was ist denn Musik“. Von der Notwendigkeit einer marginalen Wissenschaft, in: Musikwissenschaft. Eine Positionsbestimmung. Hrsg. von Laurenz Lütteken, Kassel u.a. 2007, S. 61. Beispielhaft auch Hans Heinrich Eggebrecht auf dem Symposium „Reflexionen über Musikwissenschaft“ 1970 in Bonn: „Wo heute in Sachen Musicologie Unruhe und Ratlosigkeit ins Bewußtsein dringen, liegt das an unbewältigtem Veraltern des geisteswissenschaftlichen Konzeptes der historischen Schule, das angesichts heutiger Wirklichkeit sich als nicht tragfähig erweist“ [zitiert nach: Oskár Elschek: Das Forschungskonzept der vergangenen und gegenwärtigen Musikwissenschaft, in: Musicologica Slovaca, XI: Entwicklungswege der Musikwissenschaft, Bratislava 1986, S. 71.].
[2] Prinzip Resterampe? Anmerkungen zur Open Access-Strategie der Community, veröffentlicht im ViFaMusik-Blog am 23. Juli 2015. Ebenso: Vom Nutzen der ViFaMusik für die Musikwissenschaft. Eine Positionsbestimmung, in: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie, Sonderheft: Musikbibliotheken – Neue Wege und Perspektiven (Hrsg. von Martina Rebmann und Reiner Nägele), 59 (2012), Heft 3-4, S. 137-145.
[3] Musikwissenschaft. Eine Positionsbestimmung. Hrsg. von Laurenz Lütteken, Kassel u.a. 2007.
[4] Ulrich Konrad: Ars – MUSICA – scientia. Gedanken zu Geschichte und Gegenwart einer Kunst und ihrer Wissenschaft, in: Musikwissenschaft [wie Anm. 3), S. 25.
[5] Ebd., S. 33.
[6] Ebd., S. 24.
[7] Lütteken (wie Anm. 1), S. 64f.
[8] Ebd., S. 62.
[9] Hans-Joachim Hinrichsen: Musikwissenschaft und musikalisches Kunstwerk. Zum schwierigen Gegenstand der Musikgeschichtsschreibung, in: Musikwissenschaft (wie Anm.3), S. 79.
[10] Oskár Elschek (wie Anm. 1), S. 94
[11] Hans-Joachim Hinrichsen: Musik – Interpretation – Wissenschaft, in: Archiv für Musikwissenschaft, 57. Jg. H. 1 (2000), S. 84.
[12] Sybille Krämer, Horst Bredekamp: Kultur, Technik, Kulturtechnik: Wider die Diskursivierung der Kultur, in: Bild, Schrift, Zahl, hrsg. von Sybille Krämer u. Horst Bredekamp, München 2003, S.14: „Nicht länger ist ‚Kultur‘ reserviert für das, was in Werken, Monumenten und Dokumenten sich zu stabiler und statuarischer Form auskristallisiert. Eine von der Sprachtheorie ausstrahlende und die Sozial-, Kultur- und Kunstwissenschaften ergreifende Debatte über ‚Performanz‘ und ‚Performativität‘ relativiert die Zentrierung auf Text und Repräsentation und entdeckt in Handlungen, Vollzügen, Ritualen und Routinen die Signifikanz von Kulturen“.
[13] Lütteken (wie Anm.1), S.63.
[14] Ebd.
[15] Laurenz Lütteken auf der GfM-Tagung in Halle 2015 (ab Minute 20:22): http://www.lisa.gerda-henkel-stiftung.de/digital_musicology_wo_findet_in_zukunft_musikwissenschaftliches_wissen_statt?nav_id=5878.