Digitalokal­­­musik­­geschichts­­schreibung

Aus dem Amt, einer Gesellschaft für Musikgeschichte mit regionalem Arbeitsgebiet (Baden-Württemberg) vorzustehen, darf jetzt keine Verlegenheit werden! Und schon gar keine peinliche Liebhaberei geistiger Ruheständler. Die Frage nach einer musikgeschichtlichen Forschung mit regionalem Zuschnitt muss der globalisierten und digitalisierten Welt standhalten. Zumal, wenn die Anfrage von einem Weblog kommt. Sonst können wir einpacken.

Regionalität ist ein Gedanke, der tief in der Geschichte des Fachs Musikgeschichte wurzelt. Viele ihrer Vertreter würden das zweifellos abstreiten; Regionalmusikforschung hat einen notorisch schlechten Ruf, den wir hiermit gern bestätigen, aber anders, als es ihnen recht sein dürfte. Die Gründungsväter der historischen Geisteswissenschaften im 19. und frühen 20. Jahrhundert verstanden humane Artefakte als hegelschen objektiven Geist bestimmter Lebenszusammenhänge. Die Dynamiken des konkreten Lebens, man lese es etwa in Wilhelm Diltheys epochalem Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910), kristallisierten sich in Kunstwerken, in kulturellen Gütern allgemein. Mit den Gütern zu leben sowie sie als Historiker nachzuvollziehen hieß dann, ihren Sinn zu erfassen. Natürlich kann der Sinn von Suppenschüsselornamenten, Hausgiebeln, Kirchenportalen oder eben Musikwerken unendlich transformiert werden, je nach Lebensdynamik seiner Aneignung oder seines hermeneutischen Verstehens. Aber jedes Mal ist ein Sinn eine symbolische Entität, die sich von der Materialität der Suppenschüssel und der Symphonie ontologisch unabhängig gemacht hat. Solche symbolischen Sinngebungen gelten stets regional. Irgendwo sind Lebensdynamiken ja zu Hause, irgendwo kann ihr Sinn von einem Artefakt klar in ein anderes übersetzt werden, irgendwo nur noch dunkel oder gar nicht mehr. Die Bezugnahmen der Lebensäußerungen aufeinander, die sich zu musikalischen und andersartigen Artefakten objektivieren, haben irgendwo ihr Zentrum und darum herum ihre Peripherie. Im Zentrum liegt die maximale Intensität und Anzahl von Bezugnahmen vor, darum herum dünnt es sich aus bis zu einem Rand oder einer diffusen Überschneidungszone, in der die Bezugnahmen allmählich zu einem anderen Zentrum abwandern.

So könnte man Region und Regionalmusikgeschichtsschreibung definieren. Von den Anfängen der Disziplin Historische Musikwissenschaft bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg lag dieses Konzept von Regionalität der historischen Musikwissenschaft zugrunde. Gewiss, die Regionen waren in der musikgeschichtlichen Arbeit mal enger, mal weiter gefasst, je nach Gegenstand. Aber das Regionaldenken war das beherrschende historische Paradigma auch dann, wo musikalische Gegenstände verhandelt werden, die sich eigentlich widerständig dazu verhalten, wie die Geschichte von Musikinstrumenten, von musikalischen Kompositionstechniken oder von Notenschriften.

Das Ergebnis waren Musikgeschichten von Städten (Aachen / Berlin / Königsberg / Magdeburg / Osnabrück / Solingen usw.), Musikgeschichten von Landschaften (Elsass / Niederrhein / Ostsee usw.), von Höfen (Ansbach / Mannheim / München / Württemberg usw.), Musikgeschichte von Nationen (dänisch / deutsch / irisch / norwegisch / tschechisch usw.), Musikgeschichte von Stämmen (fränkisch / schwäbisch / schlesisch usw.) und Rassen (arisch / dinarisch / jüdisch / nordisch usw.). (Ich zitiere lediglich real geschriebene Musikgeschichten.) All das sind im weitesten Sinn Regionen. Regionalmusikgeschichte mündete in Darstellungen, die die Musikgeschichte der jeweiligen Region entlang der Zu- bzw. Abnahme der Interaktionsintensität und der Vergrößerung bzw. Verkleinerung ihres Peripherieraums schrieben. Flankierend versammelte man sie je nach geltendem Wert in Denkmälerreihen oder stellte sie in Museen für entartete Kunst aus.

Es liegt mir fern, die musikgeschichtliche Arbeit vieler Mannjahrzehnte geringzuschätzen. Aber es stimmt etwas Grundlegendes nicht mit dieser Art von Musikgeschichte. Es ist nicht ihre Anfälligkeit für Tümelei, die allerdings nicht unsymptomatisch ist. Große und ganz große Fragen bleiben offen in einer Kulturgeschichtsschreibung, die von der humanen Fähigkeit zu Sinn- und Symbolbildung her konzipiert und deren räumliches Dispositiv folglich die Region ist: Wo bleibt die Technik von Monochorden, Pendeln, Spieluhren, Orchestrions, Phonographen, Radios, Synthesizern und Audiosoftware (deren Zeit- und Ortregime Sinn und Symbol und folglich das Regionale unterlaufen)? Wo bleiben die abstrakten musikalischen Entitäten wie Ganzzahlen, Sinusfunktionen, Fourier­transformationen, Maxwellgleichungen und Gruppenalgebren, die die Operationalität von Klängen regieren (deren Zeit- und Ortregime – ich wiederhole mich – Sinn und Symbol und folglich das Regionale unterlaufen)? Wo bleibt die Musik vor dem Humanum (wie prähistorische Knochenflöten am Ostrand der Schwäbischen Alb) und nach dem Humanum (wie interaktive Mensch-Maschine-Klangdesigns, wie sie jüngst in der musik AN/AUS stellung in Trossingen am Westrand der Schwäbischen Alb – nun, nicht wirklich zu hören und zu sehen, sondern vielmehr operabel wurden mit zwischengeschalteten humanen Ohren und Augen)?

Diese Dinge kommen in regionalen Musikkulturgeschichten nicht vor. Und wenn, dann werden sie kulturgeschichtlich zurechtgebogen. Aber das regionale Raumdispositiv bleibt gegenstandslos angesichts einer Zahlharmonik von 3:2, die in den italienischen Griechenstädten Kroton und Tarent dieselbe ist wie in Breslau und Berlin. Schwingende Saiten und Pendel gemäß Sinusfunktionen entfalten ihre Ortsspezifik dort, wo sie schwingen, und nicht je anders im Schwarzwald oder im Ostseeraum. Die Reichweite elektromagnetischer Wellen (und der akustischen Information, die sie transportieren können) bemisst sich nach Lichtjahren und macht bekanntlich nicht an Regionen­grenzen halt. Die Fouriertransformation modelliert jeden Klang, gleich ob es sich um arische, fränkische oder magdeburgische Musikspezifika handelt. Nach den Theoremen von Fourier und Shannon/Nyquist sind Klänge direkt, d. h. auf der operationalen und nicht erst auf einer kulturellen Ebene ineinander übersetzbar. Das vermeintliche Kulturwesen Mensch fügt sich dem überraschend schnell.

Was wäre das angemessene räumliche Dispositiv für diese unsere Musikgeschichte? – Der Ort. Es wäre der Ort, der von der jeweiligen klanglichen Operationalität selbst eingenommen wird. Dieser Ort ist einerseits eine abstrakt-typische Örtlichkeit wie etwa eine Schwingungsgeometrie oder akustische Materialkoeffizienten von Stein, Holz oder Glas (in Klangräumen wie Kirchen, Klarinetten oder Konzertsälen), andererseits konkreter raum-zeitlicher Ort, an denen die universalen Ortstypen instantiiert sind. Unsere Musikgeschichte ist lokal. Mit „lokal“ ist eine zeit-örtliche Lokalität gemeint, die nicht nur als Zeit- und Raumpunkt, sondern primär als faktische Operationalität definiert ist, welche freilich zeit-örtlich lokalisiert ist. (Wem der Begriff „Ort“ zu geographisch anmutet, der ersetze ihn durch „Situation“, eine in Alain Badious Das Sein und das Ereignis vollständig operational definierte Stelle des Erscheinens von Entitäten.) Die von den Geistes­wissen­schaften so genannte Lebensdynamik in der Musik war in Wahrheit schon immer eine transhumane Operationalität. In der digitalen Ära kommt diese Wahrheit nur ans Licht, gegolten hat sie schon immer. Auch in den aktuellen digitalen Volten des spatial turn hat man gemerkt, dass „Cyberplace“ ein passenderer Begriff ist als „Cyberspace“.

Eigentlich herrschen goldene Zeiten für musikalische Standorte in Zonen, die in Begriffen der Kulturgeschichte peripher oder gar provinziell liegen. Als hinge ihre Möglichkeit, musikalisch operativ zu werden, davon ab. Die Musikgeschichtsschreibung muss allerdings die zeit-räumlichen Merkmale musikalischer Lokalitäten erst begreifen lernen. Mit den herkömmlichen Begriffen von historischer Zeit und kulturellem Raum wird lokale Musikgeschichte kaum noch etwas zu tun haben.

2 Kommentare

  • Wenn ich den Text richtig verstehe, unternimmt der Autor den Versuch, die „regionale“ bzw. „lokale“ Musikgeschichtsschreibung aus den Fesseln eines nicht mehr zeitgemäßen idealistischen Erkenntnisstrebens zu befreien, mithin einer Musikgeschichtsschreibung die Absage zu erteilen, die regionale und lokale „Lebenszusammenhänge“ und Strukturbedingungen zur argumentativen Basis Ihres Erkenntnisstrebens erhebt und damit auch zwangsläufig der Tümmelei und Heimatglorifizierung verdächtig werden kann, oder zumindest dafür anfällig ist. Denn diese Art von Geschichtsschreibung beantworte, ich zitiere den Autor, offenbar nicht die wirklich „großen und ganz großen Fragen“; als da seien, zusammengefasst: Instrumentenkunde („Technik von…“), Akustik („musikalische Entitäten“), Musikarchäologie („prähistorische Knochenflöten“). Nun, die Inhaltsverzeichnisse der Jahrbücher „Musik in Baden-Württemberg“ aus den Jahren 1994 bis 2014 (als pdf veröffentlicht: http://www.gmg-bw.de/pdf/Jahrbuch.pdf) listen Artikel zu: „Kontrabaß-Oboe und Großbaß-Pommer“ (gleich zwei Beiträge, 1994), zu einem „Siegmaringer Instrumentenfund“ (1995), zum „Stuttgarter Fagott des 19. Jahrhunderts“ (1996), zu „Spieluhren“ (1997), zu „Musik und Technik“ (1999), zum „Orgelbau in Süd- und Mitteldeutschland“ (2003), zu einer „sechssaitigen Leier in einem merowingerzeitlichen Grab“ (2004), zu „mechanischen Musikinstrumenten“ und „Orgelbau“ (mehrere Beiträge, 2006), zu „Konzertina- und Bandonion“ (2008), zu „historischen Tasteninstrumenten“ (ebenfalls 2008), zu einer „Theorbe“ im Landesmuseum Württemberg (2011), zu den „spättischen Clavier“ von Johann Andreas Stein (2012). Zugegeben, die Mehrheit der Artikel stellen diese organologischen Beiträge nicht, die um musikikonographische und institutionsgeschichtliche Studien und Berichte zu ergänzen wären, aber: Sie fehlen auch nicht. Meine (konstruktiv gemeinte) Kritik am leidenschaftlichen Plädoyer des Autors für eine „lokale Musikgeschichtsschreibung“, die „mit den herkömmlichen Begriffen von historischer Zeit und kulturellem Raum […] kaum noch etwas zu tun haben“ soll, zielt allerdings in eine andere Richtung. Abgesehen davon, dass die von ihm präferierten „ganz großen Fragen“ fraglos einem Erkenntnisinteresse in unserem Fach zuzuordnen sind, für die sich seit jeher die sogenannten „systematischen“ Fächer verantwortlich fühlen und somit von der eigentlichen Musik- und Kulturgeschichtsschreibung auch methodologisch zu differenzieren wären -, abgesehen also davon liegt möglicherweise der Schlüssel zu einer zeitgemäßen „Musikgeschichte“ (gleichgültig ob lokal oder nicht), gerade nicht im Ahistorischen – Metapher des Autors: „Lichtjahre“ – und Atpoischen – Stichwort: „Situation“ statt Ort – , sondern in der Abwendung von einer in unserem Fach bislang immer noch überwiegend betriebenen Ereignisgeschichte handelnder Personen zugunsten einer Struktur- und Mentalitätsgeschichte, die gerade auf die Gegebenheiten vor Ort, der Region, des Milieus, der Mentalitäten usf. nicht verzichten kann. Und vor allem nicht auf das „Humanum“, vulgo den Menschen.

  • Benjamin W. Bohl sagt:

    Es es nicht so, dass die zahlreichen „ regionalen Musikkulturgeschichten“ die Datenbasis liefern sollten für die „großen und ganz großen Fragen“? Wie mag man ansonsten – ganz positivitisch gedacht – ohne die konkreten raum-zeitlichen „Instantiierungen“ der „universalen Ortstypen“ eine Aussage treffen etwa zur ‚Klanglichkeit der Klarinette‘? – Vorausgesetzt, so etwas wie ‚DIE Klarinette‘ ist in dem, der Betrachtung zugrundeliegenden ontologischen Modell überhaupt vorgesehen.
    Nicht, dass es falsch verstanden wird, ich begrüße diesen anregenden Ansatz einer „ Digitalokal­musik­geschichts­schreibung“! Aber zunächst ist es genau DIESE „sechssaitige[n] Leier in einem merowingerzeitlichen Grab“, deren Betrachtung erst im Kontext anderer Leiern oder anderer sechssaitigen Leiern zu einer größeren Frage heranreifen kann. Das Problem liegt in der Form der Verfügbarmachung und – im informationstechischen Sinne gemeinten – ontologischen Aufbereitung; ein so entstehnder neuer „Cyberplace“ mag aufgehen in bereits bestehenden oder Teil eines größeren Ortsverbundes werden, und selbst, wenn er es aus sich heraus nicht vermag, so vermag es die ‚implikative Kapazität‘ des „Cyberspace“ den Weg zu weisen zu anderen Cyberplaces anderer konkreter raum-zeitlicher Instantiierungen; dann, und erst dann, vermag man die Frage zu stellen, ob die Schallöcher der „Trossinger Leier“ typisch für merowingerzeitliche Leiern, oder gar für Leiern im Allgemeinen sind.
    Verstehen Sie dies als Appell, diesen Weg weiter zu beschreiten und alle raum-zeitlichen Instantiierungen der Klasse „Humanum“ zu raten, selbiges zu tun; denn auch aus der ‚un-systematischen‘ Schreibung der „Ereignisgeschichte handelnder Personen“ lassen sich digitale Merkmalsbeschreibungen der zugrundeliegenden Landschaft extrahieren, die erst im rechten Licht zu Bildern werden können.

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