Die meisten Musikwissenschaftlerinnen und ‑wissenschaftler dürften das Problem kennen: Am Ende einer interessanten Tagung oder eines besonders anregenden Vortrags gibt es nicht genügend Zeit für Diskussion. Fragen müssen unbeantwortet bleiben und Wortmeldungen zurückgestellt werden. Auch die anschließende Kaffeepause ist selten lang genug, um all das Ungesagte aufzuarbeiten. Trotzdem ist geisteswissenschaftliche Diskussionskultur tendenziell noch immer statisch, sie räumt traditionell dem nicht-dialogischen, frontalen Format des Vortrags den größten Raum ein und lässt dynamische Gespräche nur in relativ begrenztem Maß zu. Konferenzen und Workshops, die das Hauptgewicht gezielt auf das Gespräch legen oder individuelle Präsentationen sogar vollständig abschaffen, haben sich wohl vor allem vor diesem Hintergrund zu etablieren begonnen.
Was für musikwissenschaftliche Tagungen im Besonderen gilt, erweist sich auch für die Debattenkultur des Fachs im Allgemeinen als zutreffend: An Gesprächsthemen, an Forschungsproblemen und an engagierten AkteurInnen fehlt es gewiss nicht, wohl aber an einer (Platt‑)Form, die einen kontinuierlichen und im besten Sinne folgenreichen Austausch ermöglicht. In äußerster Zuspitzung: Entweder treffen sich Spezialisten im kleinen Kreis, diskutieren in komplexer Sprache auf fachlich hohem Niveau und bringen die Ergebnisse solcher Diskussionen schließlich in Aufsätzen, in Zeitschriften oder Tagungsbänden in eine vorläufig abgeschlossene Form. Oder aber sie formulieren ihre Thesen öffentlichkeitswirksam im Feuilleton, wo Argumente nicht selten verkürzt, aber unwidersprochen stehen bleiben müssen. In beiden Fällen fehlt es an der Möglichkeit, in eine fortgesetzte Debatte einzutreten, die eine Teilnahme auch zu späteren Zeitpunkten erlaubt.
Hinter diesem vielleicht etwas polemischen Befund steht eine gänzlich unpolemische, grundsätzliche Frage, die die Musikwissenschaft beschäftigen muss: Wie wollen wir miteinander sprechen? Wie können wir vor allem fruchtbar miteinander streiten? Dass unter den Bedingungen des Digitalen bereits Formen des Austauschs bestehen, ist bekannt, die Kommunikation innerhalb digitaler Medien gehört zum Forschungsalltag. In Twitter-Feeds und über E-Mail-Verteiler tauschen ForscherInnen Meinungen, Literaturhinweise und Quellenfunde aus. Im Bereich der “Early Music” etwa existieren diverse Facebook-Gruppen, in denen sich mehrere tausend ForscherInnen aus allen Teilen der Welt treffen. Für KollegInnen, die sich mit der aktuellen Musikkultur beschäftigen, sind die digitalen Medien nicht nur Werkzeuge wissenschaftlicher Kommunikation, sondern immer auch schon die Gegenstände ihrer Forschung.
Den Heilsversprechen einer entgrenzenden Wirkung des Digitalen zum Trotz sind diese neuen Formen des Austauschs jedoch keineswegs so offen, wie es die Technologie ermöglichen würde: WissenschaftlerInnen einer Teildisziplin, einer Forschungsgemeinschaft oder einer räumlich definierten Community bleiben häufig unter sich. Debatten, die die Arbeit vieler MusikwissenschaftlerInnen betreffen und damit das Potential haben, ins Gespräch zu verwickeln, haben in der deutschsprachigen Musikwissenschaft in den digitalen Medien kaum Fuß gefasst.
Blogs bieten hier eine Möglichkeit der Öffnung: Sie können Foren für Diskussionen sein, die viele ForscherInnen betreffen, und die Aufmerksamkeit auf jene Kernfragen lenken, zu denen die Stimmen möglichst vieler KollegInnen und Kollegen gehört werden sollten. In erster Linie stellt das Format des Blogs eine Chance dar, in fachwissenschaftlicher Hinsicht Positionen, Erfahrungen und fachliche Sozialisationen zu vermitteln, die sich nur in Ausnahmefällen auf Tagungen oder in Mailinglisten begegnen. Der Blog trifft ein grundlegendes Diskussionsbedürfnis, das in der Musikwissenschaft in jüngerer Zeit immer wieder sichtbar geworden ist. Wenn „Wege des Faches“ zum Thema (in diesem Fall sogar zum übergreifenden Thema einer internationalen Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung) werden oder die Potentiale digitaler Methoden für Forschung, Lehre und Publikation zu leidenschaftlichen Auseinandersetzungen führen, dann zeigen sich Brisanz und Breite drängender Zukunftsfragen, die MusikwissenschaftlerInnen führen wollen und müssen. Welche Aktualität, welche Drastik Debatten im Medium des Blogs entwickeln können, welche Gefahren aber auch die Diskussionsteilnahme hinter der Tastatur birgt, hat in jüngerer Vergangenheit ein Beitrag gezeigt, der unter dem Hashtag #AMSsowhite erbitterte Auseinandersetzungen um den Vorwurf eines unterschwelligen Rassismus in der US-amerikanischen Musikwissenschaft hervorgerufen hat. [1, 2] Zugleich machen Blogs Diskussionen, die bislang (wenn überhaupt) nur akademisch geführt wurden, für die Öffentlichkeit sichtbar, sind sie doch ungleich leichter zugänglich als traditionelle Publikationsformen. Auch diese Öffnung ist eine Chance: Unter Teilnahme und Mitleserschaft aller Interessierten lässt sich Forschung (auch) als Kollektivunternehmung gestalten. Dass sich fachinterner Austausch, Nachdenken über öffentliche Bedeutung und der Dialog mit Positionen jenseits der Mauern der Forschungsinstitute keineswegs ausschließen, sondern vielmehr unmittelbar befruchten können, zeigt das Beispiel des Blogs der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.
Wir hoffen, dass ein Blog, der an zentraler Stelle angesiedelt ist, für die deutschsprachige Musikwissenschaft neue Impulse setzen und Gesprächsangebote machen kann. Für seine Etablierung ist die Einrichtung von musiconn als Dachmarke der Projekte aus dem Fachinformationsdienst Musikwissenschaft im Jahr 2018 ein geeigneter Zeitpunkt. Als Knotenpunkt ganz unterschiedlicher Angebote für MusikwissenschaftlerInnen bietet musiconn dem Blog die Chance, Teil der digitalen Infrastruktur des Faches zu werden und diese auch diskursiv zu nutzen.
Die Basis für das neue Angebot stellt der bisherige Blog der ViFaMusik dar, der durch den Relaunch als musiconn.kontrovers jedoch eine grundlegende inhaltliche Neuausrichtung erfährt. Beiträge mit Berichts-, Mitteilungs- und Kommentarcharakter sollen künftig in klar getrennten Sparten erscheinen, wobei das Hauptaugenmerk auf Texten liegt, die dem neuen Label musiconn.kontrovers entsprechen: Dem akademischen Streit soll größerer Raum gegeben werden. Ziel des Blogs ist eine sachliche Debatte über Kernfragen des Fachs, in der Hierarchien des akademischen Systems keine Rolle spielen und auch unfertige und strittige Gedanken ein Forum finden. Funktionieren kann diese Unternehmung nur aus der Community heraus. Musiconn.kontrovers zielt auf Vielstimmigkeit: Etablierte Forscherinnen und Forscher sollen mit ihrer Sicht auf den Gegenstand und das Fach ebenso zu Wort kommen wie KollegInnen aus dem wissenschaftlichen Nachwuchsbereich. In regelmäßigen Beiträgen wollen wir Gedanken zu Erkenntnisinteressen, Rahmenbedingungen und Positionen des Fachs anregen. Die kurzen Texte sollen explizit zu Dialog und Widerspruch (über die Kommentarfunktion des Blogs, aber auch in Form von ausführlicheren Repliken) anregen.
Die ersten Beiträge behandeln Grundsatzfragen des Fachs: Wir wollen MusikwissenschaftlerInnen die Möglichkeit geben, aus der Innensicht über ihr Forschen und Lehren zu berichten. Im weiteren Verlauf sollen aber auch Außenperspektiven auf das Fach und der Dialog mit verwandten oder auch entfernteren Disziplinen einfließen. Als anregende Gesprächspartner wären hier Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte, aber auch Musikpraxis, Philosophie, Theologie, Geschichtswissenschaften, Literatur- und Sprachwissenschaften oder die Neurowissenschaften und viele andere zu nennen.
Dass musiconn.kontrovers trotz des international zugänglichen Online-Mediums vorwiegend deutschsprachige Texte enthalten soll, ist dezidiert nicht als Alternative zu bereits etablierten Blogformaten vor allem der englischsprachigen Fachkulturen zu verstehen, sondern dem Fokus auf die deutschsprachige Wissenschaftscommunity geschuldet. Der Blog ist jederzeit offen für Themenvorschläge – wenn Sie also einen Beitrag oder ein Problem der Musikwissenschaft zur Diskussion stellen wollen, melden Sie sich gerne bei unserer Redaktion.