Wie (un-)politisch ist Musik­wissen­schaft?

 

Bei der Betrachtung, ob Musikwissenschaft politisch oder unpolitisch ist, hilft es im ersten Schritt weiter, zu differenzieren und die Komponenten der Frage einzeln sowie in ihrer inneren Struktur näher zu beleuchten. Dabei kommen verschiedene Ebenen in den Blick. Einerseits betreffen diese den Untersuchungsgegenstand der Musikwissenschaft, das heißt diejenigen wissenschaftlichen Fragestellungen, über die sich zu anderen Wissensdisziplinen abgrenzt und inhaltlich wie thematisch definiert. Daneben betrifft dies auch die Aussagen über Beobachtungsperspektiven der Musikwissenschaft. Ausgehend von den durch sie definierten Beobachtungsobjekten – in der Regel das musikalische Werk – bezieht dies auch empirische Befunden außerhalb des etablierten Kanons der Untersuchungsobjekte wie beispielsweise die im Grenzbereich zu den Cultural Studies angesiedelten Artefakte des Pop mit ein. Ein weiteres Untersuchungsfeld wird zudem zwangsläufig durch die Frage eröffnet, ob das politische Moment der Musikwissenschaft eines ist, dass durch ihren Charakter als soziales System in ihren wissenschaftlichen Aussagen implizit und stets (mit-)kommuniziert wird – quasi die politisch relevante oder im politischen Diskurs verfügbare Außenseite musikwissenschaftlicher Debatte – oder ob das Politische als theorieimmanente Komponente in musikwissenschaftlichen Beobachtungsoperationen selbst enthalten ist. Erweitert wird die Frage der (un-)politischen Musikwissenschaft durch den Umstand, dass wie bei jedem sozial lesbaren System sowohl dezidiert unpolitische Wissenschaftsaussagen im weiteren Diskurs politisiert werden können oder auch die Absage an politikrelevante Anknüpfungspunkte überhaupt durch unintendierte Folgen dieses absichtsvollen Handelns uminterpretiert und in den politischen Diskurs wieder eingeführt werden können.

Zentraler Gegenstand der historischen Musikwissenschaft ist das musikalische Werk. Bei der Untersuchung des musikalischen Werks spielen politische Momente zunächst keine Rolle. Schaut man indes genauer hin, ergäben sich Anknüpfungspunkte des Politischen schon zu einer Zeit, in der Musikwissenschaft als eigenständiges Fach noch gar nicht konzipiert war, nämlich zur Zeit der Emanzipierung der Musik und der damit verbundenen Frage „geistlicher“ und „weltlicher“ Metren, erlaubter und unerlaubter Tonschritte sowie Vorläufern der später vehement entbrennenden und in Teilen immer noch andauernden Debatte zum Wert von Musikwerten und der dadurch grundierten Kanonbildung des Werkfundus der Musikwissenschaft. Spätestens seit der zentralen Indienststellung des musikalischen Werkes als Mittel- und Ausgangspunkt musikwissenschaftlicher Debatten und der Frage nach dessen Qualität (die umso höher einzuschätzen sein, als sie sich selbst genüge und keine bis äußerst geringe außermusikalische Anknüpfungspunkte aufweise) ist das politische Moment des musikwissenschaftlichen Diskurses aufs Engste mit dem Werk und seiner Analyse verbunden. Wir finden hier Beispiele in der jüngeren Geschichte der Musikwissenschaft, die von Theorien zum Jüdischen in der Musik über den Formalismusstreit bis hin zur Debatte reichen, welche Kompositionstechniken reaktionär und welche fortschrittlich sind. Viele dieser politisch aufgeladenen Betrachtungen des musikalischen Werkes gibt es bis heute. Inwieweit sie auch im Politischen virulent und sichtbar werden, hängt allerdings eng mit der Wahrnehmung des musikwissenschaftlichen Diskurses außerhalb der Musikwissenschaft zusammen.

Eng mit dem musikalischen Werk verbunden ist seit dem Diskurs über die ihm immanent verbundenen politischen Implikationen auch die Frage, ob ein politischer Mehrwert des Musikwerkes überhaupt erstrebenswertes Ziel ist. Auf der einen Seite wird dies unter der Überschrift „l´art pour l´art“ vehement verneint und abgelehnt, auf der anderen Seite unter der Überschrift „Kunst als Waffe“ ebenso vehement eingefordert. Die Frage, ob ein Musikwerk sich selbst genügt oder ob es die gesellschaftlich relevante und damit politisch lesbare Aussage benötigt, um in den gesellschaftlichen Diskurs eingreifen und diesen beeinflussen zu können, wird nach wie vor strittig beantwortet. Unbestreitbar trägt jedoch schon die Tatsache, ob ein Werk überhaupt als wichtig genug befunden wird, um im musikwissenschaftlichen Diskurs überhaupt Beachtung zu finden, dazu bei, es zumindest mittelbar für politische Einordnungen und Bewertungen heranzuziehen. Politische Entscheidungen zur – vor allem finanziellen – Förderung bestimmter Werkkonvolute sprechen hier eine deutliche Sprache: Musikwissenschaft zieht auch dort politisch interpretierbare Konsequenzen nach sich, wo sie zunächst gar nicht beabsichtigt wurden.

Eng verbunden mit dem Musikwerk und dennoch in der musikwissenschaftlichen Betrachtung thematisch voneinander geschieden ist der Urheber desselben. In der politischen Auseinandersetzung zur Einordnung eines Musikwerkes spielt es daher nicht selten eine wichtige Rolle, ob der Urheber selbst sein künstlerisches Schaffen als politikrelevantes Statement versteht. Aber auch im umgekehrten Fall ist es von Bedeutung, nämlich dann, wenn der Urheber sich als dezidiert politischen Akteur versteht – auch dann, wenn seinen Werken ein konkretes politisches Element nicht eingeschrieben ist. Zur weiteren thematischen Vertiefung dieser Wechselwirkungen ist mit Sicherheit Richard Wagner ein hervorragendes Exempel. Aber auch über den engeren Kanon der in der Musikwissenschaft untersuchten Werke und Gattungen hinaus ist dieses Feld fruchtbar für weitere Beobachtungsoptionen – beispielsweise wenn es um die spezifische Rolle von Komponistinnen oder außereuropäische Einflüsse auf den Kompositionsprozess des Abendlandes und damit verbunden die Frage der Einordnung von Werken auf Grund ihrer urheberspezifischen politischen Deutung geht.

Von den beiden in der Musikwissenschaft zentralen Faktoren – dem Musikwerk und dem Urheber – abgesehen gibt es eine ganze Reihe weiterer Fragestellungen, die uns der Beantwortung oder Einordnung einer (un-) politischen Wissenschaftsdisziplin näherbringen kann. Neben Wissenschaftssystem-immanenten Entscheidungen über die Ausrichtung der musikwissenschaftlichen Forschung, den verfügbaren Lehrinhalten und den dazu zur Verfügung gestellten Ressourcen spielt es eine wichtige Rolle, ob der wissenschaftliche Diskurs innerhalb der Musikwissenschaft sich um Verständlichkeit im politischen Diskurs bemüht oder ihn nach Kräften vermeidet. Beides hat durchaus konkrete Vor- und Nachteile. Ist Musikwissenschaft durch eine von ihr vollzogene Öffnung hin zum politischen Raum politisch relevant, wird sie auch damit leben müssen, dass sich dieser politische Diskurs in das Feld musikwissenschaftlicher Fragestellungen hineinzieht, sie damit quasi zu einem bestimmten Teil in ihrem Tun fremdbestimmt wird. Sie kann durch diese thematische Überschneidung als Partner im politischen Diskurs wahrgenommen und dadurch innerhalb des politischen Systems aufgewertet werden. Auf der anderen Seite schränkt sie sich selbst in ihrer wissenschaftlichen Freiheit ein. Ist Musikwissenschaft hingegen dezidiert unpolitisch, stellt sich auch die Frage nach der Wertschätzung innerhalb des politischen Diskurses neu. Wissenschaftliche Freiheit „erkauft“ man sich in diesem Fall auf Kosten fehlender politischer Relevanz und schlimmstenfalls mit der auf Politikebene getroffenen Feststellung, dass musikwissenschaftliche Forschung irrelevant für die Gesellschaft ist.

Zum Autor: Dr. Thomas Feist studierte Musikwissenschaft, Soziologie und Theologie an der Universität Leipzig, wo er 2005 mit einer Arbeit zum Thema Musik als Kulturfaktor promoviert wurde. Von 2009 bis 2017 gehörte er dem deutschen Bundestag an, in dem er als Mitglied der CDU/CSU-Fraktion den Wahlkreis Leipzig II vertrat.

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