Zum Verhältnis von Musikverlagen und akademischer Musikwissenschaft
Von den Herausgebern dieses Forums angefragt, einen möglichst „kontroversen, diskussionsanregenden“ Essay darüber zu verfassen, was sich Musikverlage heute „von den Kolleg*innen in den Universitäten und Forschungsinstituten“ erwarten, brachte ich das Thema unlängst in unsere Lektoren-Runde ein. Mit sechs promovierten Musikwissenschaftlern und vier weiteren Mitarbeitern mit Masterabschluss haben wir im G. Henle Verlag vermutlich die höchste privatwirtschaftliche Musikwissenschaftler-Dichte weltweit. Und tatsächlich kamen, zu meiner Überraschung, konträre Meinungen zutage. Bevor ich sie referiere, ein paar einleitende Sätze.
„Musikverlage“ – das ist ein weites Feld. Was sich (angehende) Musikwissenschaftler möglicherweise darunter vorstellen, nämlich das Herstellen und Vertreiben „klassischer Musiknoten“, entspricht flächenmäßig ungefähr dem Saarland im Vergleich zu den USA. Die „USA“, das sind die „majors“ und „indies“ und 10.000de Labels, die sich mit der umsatzträchtigen sog. „U-Musik“ befassen, und mit „Klingeltönen“ und mit so was. Der „klassische Musikverlag“ ist eine rare Orchidee.
Die Lektoratsabteilung ist zweifellos die primäre Anlaufstelle für Absolventen der Musikwissenschaft innerhalb eines Orchideen-Musikverlags, wie es beispielsweise unserer ist. Einsatzmöglichkeiten mag es freilich auch, je nach Ausrichtung des Verlags, in der Werbe-/Presse-/Marketingabteilung geben, ja vielleicht sogar im Vertrieb. Die wenigen verbliebenen Musikverlage, die ein klassisches „Lektorat“ zur Sicherung eines profilierten Verlagsprogramms betreiben, sind im deutschsprachigen Raum an maximal zwei Händen abzuzählen. Die dort zu leistende Arbeit ist anspruchsvoll und bedarf einer gehörigen Lernkurve „on the job“. Das war zu meiner Zeit als (1990) von der Uni Kommender nicht anders als heute.
Verändert hat sich aber sehr wohl der Anspruch an diesen Beruf „Musik-Lektor“. Heute handelt es sich dabei in den meisten Verlagen um Projektmanager, die von der (neuen) Idee bis zum fertigen Produkt alle Fäden (extern wie intern) steuernd in der Hand halten. Neben einer grundständigen universitären Fach-Ausbildung (siehe unten: kontrovers!) benötigt man meiner Meinung nach daher zusätzlich ganz bestimmte persönliche Eigenschaften und Qualitäten, die man freilich überall im (Berufs‑)Leben brauchen kann, die andererseits gar nichts mit der universitären Ausbildung zu tun haben (oder doch?). Ich nenne: ausgeprägtes Organisationstalent, starke kommunikative Qualitäten (Sachverhalte in gutem Deutsch, gerne auch Englisch, prägnant darstellen), verknüpft mit sicherem Auftreten, das der Zielgruppe (in der Regel Musiker, aber auch Musikwissenschaftler, Bibliothekare) vermittelt, dass sich da jemand mit dem zu verantwortendem Repertoire aus eigener Erfahrung (Musizieren, Edieren) wirklich auskennt; außerdem Stressresistenz, Verantwortungsgefühl, Kollegialität, Musikalität, etc. etc.
Da wir es im Urtext-Lektorat ganz überwiegend mit Noten-TEXTEN zu tun haben (historische Quellen, moderne Ausgaben, Korrekturfahnen etc.), erwarten wir im G. Henle Verlag von der Universität zunächst einmal ganz konkret die Vermittlung sorgfältigen Arbeitens mit Musik-Quellen der verschiedenen Epochen und Jahrhunderte. Ganz schlicht: die Befähigung, Noten richtig und genau lesen zu können. Aber: wird das überhaupt (noch) gelehrt? Und hier beginnt die „Kontroverse“:
STIMME 1: „Leider ist es inzwischen zum Normalzustand geworden, dass Bewerbungen aus dem Kreis der Musikwissenschaftler letztlich unbrauchbar sind. Philologie und Editionstechniken spielen eine derartig untergeordnete Rolle – wenn überhaupt –, dass wir letztlich für diese Hauptbeschäftigung im Verlag eine interne Ausbildung leisten müssen, bevor wir die neuen Kolleg*innen effektiv einsetzen können. Für die Abteilungen Sales und Marketing fehlt es den Anwärtern dagegen an Praxisorientierung und häufig die Bereitschaft, sich auf die speziellen Bedürfnisse dieser Aufgabengebiete einzulassen. Werbetexte sind keine wissenschaftlichen Aufsätze, Kundenkontakte keine Vorlesung!“
STIMME 2: „Meine persönlichen Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit aktiven Mitgliedern der akademischen Musikwissenschaft als Herausgeber unserer Urtextausgaben sind durchweg positiv. Der Vorteil für uns Lektoren ist zweifellos, dass diese Musikwissenschaftler eine gute, oft sogar sehr genaue Vorstellung von einer kritischen Edition haben. Sie wirken aktiv an der Quellenbeschaffung mit und legen in der Regel stimmige Quellenabhängigkeiten und -bewertungen vor, was wohl nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass ‚Quellenkunde‘ und/oder ‚Editionstechnik‘ seit mehreren Jahrzehnten bei den meisten deutschen musikwissenschaftlichen Instituten Pflichtkurse bilden.
Nachteile sind gelegentlich eine ungute Tendenz zum akademischen Jargon (einfache Sachverhalte werden in den Worttexten unnötig kompliziert ausgedrückt) oder auch mangelndes Gespür für pragmatische und/oder musikalisch schlüssige Lösungen bei Notentextproblemen (etwa bei der Angleichung von analogen Stellen oder allgemein bei Entscheidungen gegen die Hauptquelle).“
STIMME 3: „‚Urtext‘-Ausgaben dienen doch in erster Linie der musikalischen Praxis, also den Musikern – und eben nicht den Lesern sog. ‚Kritischer Berichte‘. Daher meine ich, dass Benutzerfreundlichkeit für alle am Produkt Beteiligte das Hauptanliegen sein sollte – eben auch den „wissenschaftlichen“ Herausgebern. Dem ‚typischen‘ Musikwissenschaftler (mit Betonung auf ‚Wissenschaftler‘) fehlt hierfür, meiner Erfahrung nach, Auge und Maß. Wie oft müssen wir im Lektorat Noten-Stichvorlagen und eingereichte Worttexte komplett neu schreiben …“
STIMME 4: „Zum Thema Editoren/Lektoren: hier versteht sich fundierte Musikwissenschaft als Voraussetzung von selbst. Ich würde mir allerdings wünschen, dass das für uns zentrale Thema, die Philologie, im heutigen und morgigen Musikwissenschaftsstudium auch tatsächlich eine Rolle spielt. Ich habe 4 Jahre in Köln Musikwissenschaft studiert, ohne jemals von der Haydn-Gesamtausgabe und dem Haydn Institut gehört zu haben.“
STIMME 5: „Ich finde es besonders wichtig, breite Repertoirekenntnis und solide Recherche-Techniken zu erwerben (z.B. muss man unserer Werbeabteilung nicht sagen, in welchem Lexikon man nachlesen muss, um gesicherte Informationen zu Komponisten und/oder Werken zu bekommen). Liebe und Begeisterung für die Sache Musik (also Emotion), gepaart mit diesen ‚Kulturtechniken‘, findet man sicherlich auch außerhalb der Muwi-Institute. Dazu muss man nicht unbedingt im Fach Musikwissenschaft promoviert haben – wie wir alle hier.“
Mögen also unsere persönlichen, sich durchaus widersprechenden Meinungsäußerungen zum aktuellen Verhältnis von Musikverlagen und akademischer Musikwissenschaft ein breites, kontroverses (?) Echo in der Leserschaft dieses wunderbaren Forums auslösen.
Zum Autor: Dr. Wolf-Dieter Seiffert ist geschäftsführender Verlagsleiter des G. Henle Verlags.
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