Alles nur Ironie? Was wirk­lich in der Mauser-Fest­schrift steht

Zur Mauser-Festschrift scheint mittlerweile alles gesagt zu sein, was zu sagen ist – in zahlreichen Pressekommentaren und auch von Seiten der Musikwissenschaft, etwa in den Stellungnahmen einiger Fachgruppen in der Gesellschaft für Musikforschung. Im Raume steht jedoch noch der Vorwurf, die Kritiker*innen hätten die Festschrift nur bruchstückhaft gelesen. Gerade die viel zitierte Formulierung von Mausers »weltumarmende[m] Eros« sei, so Mitherausgeber Dieter Borchmeyer im Interview mit dem Bayerischen Rundfunk aus dem Zusammenhang gerissen worden – »und wenn man das so herauslöst, dann versteht man den ganzen leicht ironischen Ton dieses Vorworts nicht.« Das Zitat beziehe sich, so belehrt er seine Leser*innen, »natürlich zurück auf ›Seid umschlungen Millionen‹ aus dem ›Lied an die Freude‹«.

So lange ein Buch nicht erschienen ist und nur bruchstückhafte Informationen über seinen Inhalt vorliegen, ist es wohlfeil, Kritik mit dem Hinweis auf den nicht zur Kenntnis genommenen Kontext abzuwehren. Und man muss sich das Recht zur Kritik auch nicht dadurch erkaufen, dass man erst die gesamte Festschrift liest. Ich habe mir die Mühe trotzdem gemacht. Und ich kann nun bestätigen, was viele Kommentare schon annahmen: Auch wenn vielleicht einige Autor*innen an dem Buch nur mitgewirkt haben, um den von ihnen geschätzten Künstler und Wissenschaftler Mauser zu würdigen, so ist die gesamte Festschrift doch ein Unternehmen zur Marginalisierung der Taten, die der Mensch Mauser begangen hat. Ich möchte das mit drei Beobachtungen verdeutlichen.

1. Den »weltumarmenden Eros« konnte man für eine verunglückte Formulierung halten, solange man den Kontext nicht kannte. Liest man ihn im Zusammenhang des Geleitworts, so wird seine Aussage jedoch nicht weniger problematisch. Im Gegenteil. Das Geleitwort würdigt zunächst den Jubilar als Wissenschaftler und Pianisten, Hochschulleiter, Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und charismatischen Pädagogen – so weit, so genretypisch. Es folgt eine ausführliche Charakterisierung des Menschen Mauser, die mit einem Lob für dessen »menschenfreundliche und ›millionenumschlingende‹ Kommunikationsbereitschaft und Herzlichkeit« (S. 12) beginnt. Dies ist in der Tat eine Anspielung auf das »Lied an die Freude«, die, auch für die literarisch weniger gebildeten Leser*innen unübersehbar, mit einfachen Anführungszeichen gekennzeichnet ist. Die Einschätzung, ob der Begriff ›Ironie‹ hier richtig verwendet ist, überlasse ich dem Literaturwissenschaftler Borchmeyer. Zweifellos unironisch indessen ist die folgende Bemerkung: Mausers Herzlichkeit »kennt keine Hierarchie […] und baut so alle Barrieren zwischen sich und den anderen ab« (ebd.). Manche, die dem Jubilar einst begegnet sind, hätten vielleicht den Erhalt schützender Barrieren vorgezogen. »[D]urch seine ›entwaffnende Offenheit‹« gelinge es Mauser, »alle distanzierende Maskerade sowohl auf der eigenen Seite als auch auf der des Gegenübers zu durchbrechen […] und Absichten und Wünsche seines Gesprächspartners zu entschlüsseln« – sodass er vielleicht besser weiß als sein Gegenüber, was dieses wirklich will? Im Anschluss an diese (Achtung, Ironie!) mit höchster Sensibilität gegenüber den Opfern formulierten Sätze kommt die berühmte Passage, die hier noch einmal zitiert sein mag: »Mausers Empathie, das Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit, sich mitzufreuen und mitzuleiden, wurden ihm nicht immer nur gedankt. Seine Visionen und sein unbändiger Tatendrang, die ansteckende Spontaneität und begeisternde Vitalität haben ihm manche Kritik eingetragen – und sein bisweilen die Grenzen der ›bienséance‹ überschreitender weltumarmender Eros hat für ihn schwerwiegende rechtliche Folgen gehabt.« Ironie – oder nur Heischen um verständnisvolles Schmunzeln? Im folgenden Satz zumindest wird es ernst: »Seinem unanfechtbaren künstlerischen Lebenswerk und seinem für die zeitgenössische Musikwelt so unentbehrlichen Wirken droht dadurch ein Ende gesetzt zu werden. – Die vorliegende Festschrift sucht dem entgegenzuwirken.« (S. 12) Damit erübrigen sich wohl alle Spekulationen über die Funktion der Festschrift.

2. Festschriften für Wissenschaftler*innen bestehen meist aus einer Reihe wissenschaftlicher Aufsätze, die zu den Forschungsgebieten des Jubilars passen; sind Künstler*innen beteiligt, kann auch mal ein Musikstück oder eine Zeichnung enthalten sein. Der vorliegende Band enthält jedoch auffällig viele Bezüge auf den Menschen Mauser. Michael Krüger schreibt ein Gedicht für »Sigi«. Jörg Widmann lobt »Sigis« Fähigkeiten als Musikvermittler in den höchsten Tönen, Ariberts Reimann überträgt in seinem »Albumblatt für Sigi« den Namen »Siegfried Mauser« in Tonbuchstaben (so gut oder schlecht es eben geht). Gernot Gruber flicht in seinen Forschungsbericht zur musikalischen Hermeneutik Erzählungen von gemeinsamen Erlebnissen mit Mauser ein. Eckart Rahn lobt blumig Mausers Mozart-Spiel und erzählt von einem gemeinsamen CD-Projekt. Nike Wagner widmet ihren Text über Liszt »Sigi Mauser, der in Wahnfried den späten Liszt gespielt hat«. Wolfgang Rihm komponiert ein »Intermezzo für Sigi« mit dem Titel »Solitudo«. Dessen Bedeutung wird in dem anschließend abgedruckten Gespräch zwischen Rihm und der Mitherausgeberin Susanne Popp aufgelöst. »[Popp:] Auch der Titel von Ihrer Widmungskomposition für Siegfried Mauser sagt viel. ›Solitudo‹ – das spricht für sich. [Rihm:] Dazu die nachgereichte Unterzeile ›Intermezzo‹ – möge es ein Zwischenspiel bleiben – mögen sich die leeren Räume der vielen Pausen füllen!« (S. 62, kursiv i. O.). Es sind nicht erst die Kritiker*innen, die die Festschrift mit Mausers Straftaten in Verbindung bringen, sondern die Mitwirkenden selbst.

3. Es mag zu weit hergeholt sein, in einigen Themen und Bemerkungen der Beiträge Anspielungen auf Mausers Situation zu sehen: »Die ganze Welt ist gegen mich« (so zitiert Nike Wagner Liszt, S. 230) oder »Pace non trovo« (Überschrift von Wolfram Steinbecks Aufsatz über Liszts Petrarca-Sonette). Dass jedoch das Thema von Susanne Popps Beitrag über das Verhältnis von Max Reger und dem Dirigenten Fritz Steinbach zufällig gewählt ist, ist unwahrscheinlich: Die Parallelen zum Fall Mauser sind allzu auffällig. Vordergründig geht es der Autorin um eine späte Würdigung von Steinbachs künstlerischen Leistungen, denn »eine vernichtende Anschuldigung sollte verhindern, dass er als Förderer der Moderne angemessen erinnert wird« (S. 319). Man darf raten, um was für eine Anschuldigung es sich handelte: 1913 wurden dem Dirigenten – wie man es heute formulieren würde – sexuelle Übergriffe auf eine Konservatoriumsstudentin vorgeworfen. Ohne jede kritische Distanz gibt Popp die Argumente wieder, die Steinbach zu seiner Verteidigung vorbrachte: Er habe die Studentin, die ohnehin nicht in gutem Ruf stand, »in einer menschlich schwachen Stunde u. weil sie mir immer auf dem Halse lag, einmal oder zweimal ›getätschelt‹« (S. 332). Die Tellerminen lassen grüßen. Hintergrund sei, so resümiert Popp, eine von Konkurrenten gesteuerte »auf Steinbachs Weggang zielend[e] Kampagne« (S. 334).

*

Nachdem sie die gedruckte Festschrift samt Vorwort zu Gesicht bekommen haben, haben einige der beteiligten Autor*innen ihre Mitwirkung damit gerechtfertigt, dass sie lediglich den Wissenschaftler und Künstler Mauser hätten ehren wollen. Jedoch scheint Helmut Lachenmann der einzige zu sein, der sich öffentlich dagegen gewehrt hat, »durch diese für mich schwer nachzuvollziehende Hymne fahrlässig instrumentalisiert« zu werden.

Warum protestieren keiner der anderen Beteiligten dagegen, für ein Programm zur moralischen Rehabilitation eines Sexualstraftäters vereinnahmt worden zu sein?

Zur Autorin: Prof. Dr. Rebecca Grotjahn ist Professorin für Musikwissenschaft an der Universität Paderborn und der Hochschule für Musik Detmold.

5 Kommentare

  • Huflaikhan sagt:

    Fast einwandfrei. Danke für diese bittere Lektüre. Die Popp-Sache ist ganz schön heftig.

    Nur eine Ergänzung vielleicht. Die Aussagen von Lachenmann sind leider nicht so sehr öffentlich, sondern allein manchen Redaktionen zur Kenntnis! Bei der nmz haben wir diese Äußerungen nicht als Stellungnahme offiziell veröffentlichen können – ich persönlich finde sie nämlich auch ein bisschen problematisch.

    Anders liegt der Fall bei Peter Michael Hamel, der sich offiziell geäußert hat.

  • Jürgen May sagt:

    Dank an Frau Grotjahn für diese inhaltlich fundierte Stellungnahme. Denn offenbar unterstellen einige der Verteidiger*innen Siegfried Mausers, dass die Kritiker*innen über Inhalt und Kontext von Festschrift und Vorwort nicht ausreichend informiert seien. Liest oder hört man etwa das Interview mit Borchmeyer, dann scheint er ja geradezu genau darauf zu setzen. Man muss sich allerdings fragen, ob der Mann wirklich glaubt, was er da sagt. Zwei Beispiele:

    Zum einen die Behauptung, die inkriminierte Formulierung („weltumarmender Eros“ usw.) sei ironisch gemeint und könne gar nicht Mausers Straftaten bezogen werden, weil das Vorwort lange vor seiner Verurteilung geschrieben sei: Auf was, bitte, soll man die Formulierung denn sonst beziehen, wenn im selben Satz (!) davon die Rede ist, diese Eigenschaft Mausers habe ihm nun „schwerwiegende rechtliche Konsequenzen“ eingebracht?

    Zum zweiten das wohlfeile Argument, den „Künstlergelehrten“ Mauser mit der Festschrift ehren zu wollen, nicht aber den Straftäter – implizierend die Mahnung, doch bitte das eine vom anderen zu trennen. Seltsam, dass dabei offenbar vergessen (oder unterschlagen) wird, das Mauser diese Trennlinie (falls sie überhaupt zu ziehen ist), selbst durchbrochen hat, indem er seine Straftaten in Ausübung einer (Macht-)Position begangen hat, die er eben aufgrund seiner Reputation als Künstler und Wissenschaftler innehatte. Was gibt es da noch zu trennen?

  • Ich möchte mich für den so sorgfältig gearbeiteten Text von Frau Prof. Dr. Grotjahn bedanken. Es ist bitter, die Realität zu betrachten – und es tut gut. Danke, dass Sie sich die Mühe gemacht haben.

  • Prof. Dr. Susanne Popp sagt:

    Es ist sehr bedauerlich und auch der Anerkennung von Frauen in der Wissenschaft nicht dienlich, wenn sich eine Professorin bei der Beurteilung eines wissenschaftlichen Aufsatzes von Emotionen steuern lässt. Andernfalls hätte sie erkennen müssen, dass mein Artikel keine persönliche Meinungsäußerung ist, sondern dass es sich um eine sorgfältig recherchierte und mit bisher unbekannten historischen Quellen aus dem Kölner Stadtarchiv und dem Brüder-Busch-Archiv detailliert belegte Untersuchung handelt. Allerdings wurde das Thema von mir mit Bedacht gewählt, weil der „Fall Steinbach“ die Gefahr aufzeigt, wie durch die (in diesem Fall nie gerichtlich verhandelte) Beschuldigung sexueller Übergriffe die Bewertung eines künstlerischen Wirkens zwar nicht ausgemerzt, aber doch stark eingeschränkt wird. Auch im „Fall Mauser“ sehe ich die Gefahr, dass durch die Selbstjustiz Einiger seine durch das Gericht verhängte Strafe zusätzlich unangemessen verschärft wird. Der deutsche Strafvollzug ist auf Wiedereingliederung ausgerichtet, während viele der Einlasszngen auf ein lebenslanges Berufsverbot und die Unterlassung jeder Anerkennung seiner bisherigen künstlerischen und wissenschaftlichen Leistungen zielt. Ich kann nur allen, die sich an dieser Diskussion beteiligen, empfehlen, nach gutem wissenschaftlichem Brauch meinen Aufsatz zu lesen und sich ohne Erregung und vorgefasste Meinung selbst ein Urteil zu bilden. „Die Popp-Sache ist ganz schön heftig“ reicht da meines Erachtens nicht aus.

  • Ein Gerichtsurteil, das mit einer im Prozess nachgewiesenen, vorsätzlich begangenen Straftat begründet ist, führt – spätestens mit dem Richterspruch – zwangsläufig auch zu einer moralischen Verurteilung des Täters („sozialethischer Tadel als Unwerturteil“ heißt dies wohl im Juristendeutsch). Der Tatbestand des Vorsatzes als zwingendem Tatbestandsmerkmal lässt, hinsichtlich des Charakters des Täters im Moment der Tat, keine andere Schussfolgerung zu, gleichgültig, ob der Vorsatz mit Absicht, mit bloßem Wissen um die Folgen oder mit schlichter Billigung derselben erfolgte. Wer rechtskräftig verurteilt wird, hat sich also zwangsläufig bis zur Erfüllung des Strafzweckes auch im gesellschaftlichen Kontext moralisch disqualifiziert. Mit Aussicht auf Resozialisierung freilich, sofern dies als Strafzweck vorgesehen ist, durch das Ableisten der Strafe. Wenn das Rechtssystem nicht in Frage gestellt wird, kennt das moralische Urteil also ebenfalls keine Grauzone: Ein Täter, der absichtlich kriminell handelt, handelt eindeutig antisozial. Und antisoziales, dissoziales oder asoziales Verhalten ist ohne Wenn und Aber zu verurteilen. Jede Parteinahme für den Straftäter, jedes Ausweichen in Grauzonen charakterlicher Verklärungen, sprachartistischer Euphemismen und eigenmächtig konstruierter Deutungsversuche qualifizieren bzw. disqualifizieren ausschließlich die selbsternannten Kommentatoren. Aber auch bewusstes Schweigen, wo eine eindeutige und führungsverantwortliche Stellungnahme gefordert wäre, ist bereits ein verräterischer Kommentar. Dazu gibt es nicht mehr zu sagen.
    Schwieriger scheint es mit der Bewertung der wissenschaftlichen und/oder künstlerischen Lebensleistung eines solchen Menschen zu sein. Ist es aber nicht. Man muss nur unterscheiden: „Die Hersteller der wichtigen Kunstwerke dürfen keinesfalls vergöttlicht werden“, fordert Adorno, im Gegenteil: „Die Produzenten bedeutender Kunstwerke sind keine Halbgötter, sondern fehlbare, oft neurotische und beschädigte Menschen“. Und da die ästhetische Qualität von Kunst, wie uns die Kunsttheorie seit den 1960 Jahren lehrt (und Kant schon wusste), nun mal keine Eigenschaft von Kunstwerken, sondern von Kunsterfahrungen ist, entlarvt die Tatsache, dass wir ein Werk gut finden, schlicht unsere individuelle rezeptive Wahrnehmung innerhalb unseres je spezifischen Erfahrungs- und Erwartungshorizont. Jedenfalls keine ästhetische Eigenschaft des musikalischen Kunstwerks, das durch den Charakter des Komponisten zu korrumpieren gewesen wäre.
    Anders bei der interpretierenden Kunst. Ein Sänger, Dirigent oder Instrumentalvirtuose und das von diesem vorgetragene und im Vortrag personalisierte Kunstwerk sind untrennbar miteinander verbunden. Der vortragende Künstler garantiert mit seiner Persönlichkeit Authentizität. Nur so wird künstlerische Intensität und als Folge auf Seiten der Zuhörerschaft Ergriffenheit spürbar, erfahrbar; denn erst die Momente der Intensität evozieren ästhetisches Erleben (Hans Ulrich Gumbrecht). Vertraue ich dem Künstler als Person, vertraue ich auch dem künstlerischen Ausdruck. Misstrauen vernichtet die Aura.
    Sprachgebunde Emanationen, künstlerische ebenso wie wissenschaftliche, sind dagegen stets „objektiv“ verdächtig. Sprache transportiert schließlich die Gedankenwelt und das Weltwissen des Autors resp. der Autorin, und Sprache ist per se anfällig für Missverständnisse. Sie lässt sich zudem zum bewussten Missbrauch für Fake News und Agitation instrumentalisieren, gleichgültig welchem Genre zugehörig, dem fiktionalen, journalistischen oder wissenschaftlichen. Und da ist dann eben das schlichte Handwerk der kritischen Lektüre gefragt: Beim Lesen eines Romans, bei der Zeitungslektüre oder der Begutachtung einer wissenschaftlichen Arbeit. Künstler sind nun Mal nicht edel, Feldherren nicht mutig und Herrschende nicht weise. Ebenso wenig Wissenschaftler.

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