Eine Un­vollendete – Die Bologna-Reform und die Musik­wissen­schaft

Man könnte meinen, ein Text zum Bologna-Prozess sei im Jahr 2020 aus der Zeit gefallen. Die Reform der Studiengänge an den europäischen Universitäten ist doch schon längst abgeschlossen. Tatsächlich sind die allermeisten Curricula in Module gegossen und an vielen Universitäten wurden diese von (mehr oder weniger unabhängigen) Agenturen auch akkreditiert. Dass bei diesen „Qualitäts­sicherungs­maß­nahmen“ nicht immer mit nachvollziehbaren Bewertungs­kriterien gearbeitet wurde, ist sicherlich Thema für einen eigenen Text und soll hier keine Rolle spielen. Mir liegt ein anderer, vielleicht noch wichtigerer Aspekt auf der Seele: Ich glaube, dass das neue Studiensystem – obwohl die Reform formal in den Prüfungsordnungen umgesetzt wurde – in den Köpfen vieler Professor*innen und Mitarbeiter*innen an Universitäten und Hochschulen immer noch nicht angekommen ist. Dabei wäre es höchste Zeit: Die Studierendenzahlen in vielen geisteswissenschaftlichen Studienfächern und im Fach Musikwissenschaft stagnieren oder gehen zurück. Im Bereich der Masterstudiengänge kämpfen viele Standorte sogar um ihr Überleben.

Was ist also passiert? Nicht nur an den Instituten, an denen ich bislang tätig war, sondern auch in Gesprächen mit Kolleg*innen aus anderen Städten des deutschsprachigen Raums habe ich den Eindruck gewonnen, dass der Bologna-Prozess, der bereits 1999 angestoßen wurde, im Fach Musikwissenschaft weitgehend unter dem Motto „Bewahrung des Althergebrachten“ begonnen wurde. Er wurde vielerorts als Zumutung und Belastung empfunden und man versuchte, so viel wie möglich aus dem Magister oder Diplom in die neuen Bachelor- und Masterstudiengänge zu übernehmen. Es war ja schließlich nicht alles schlecht! Mit der Umsetzung der Reform wurde dann (eben unter der Maßgabe, möglichst viel des Alten zu bewahren) in der Regel der festangestellte akademische Mittelbau (z. B. Assistierende) betraut, der noch wenige Jahre zuvor durch die finanziellen Kürzungen im Hochschulbereich stark ausgedünnt worden war. Ob und in welchem Umfang es innerhalb des Fachs Musikwissenschaft – etwa in der Gesellschaft für Musikforschung – in dieser Zeit Beratungen und Absprachen zu den Studiengangsreformen gab, lässt sich heute schwer rekonstruieren. Veröffentlichungen gibt es jedenfalls kaum. Im Jahr 2008 fand an der Universität Saarbrücken eine Tagung mit dem Titel Der Bologna-Prozess in der europäischen Musikwissenschaft statt, deren Ergebnisse jedoch unpubliziert blieben. Insgesamt lässt sich aus meiner Perspektive konstatieren, dass die Leitmotive der europäischen Hochschulreform, etwa die angestrebte Vergleichbarkeit von Studiengängen durch Modularisierung von Lehrveranstaltungen, oder die Steigerung der Mobilität von Studierenden, oftmals schlicht ignoriert wurden.

Ich vermute, dass viele Fächer heute die Früchte dieses „Weiter so“ ernten. An traditionsreichen Universitäten wie Bern oder Göttingen sind weniger als ein halbes Dutzend Masterstudierende eingeschrieben, was keineswegs daran liegt, dass die Standorte unattraktive Studienangebote machen. Viele Studierende, mit denen ich in den letzten Jahren über ihre Zukunftsplanung gesprochen habe, haben die Zweigliedrigkeit des Bachelor-/Mastersystems weit mehr verinnerlicht als ihre Lehrer*innen. Sie begreifen ihren Bachelor als echten (sogar berufsqualifizierenden) Abschluss, als Möglichkeit einer Weichenstellung und als Chance für einen Tapetenwechsel. Nachdem sie die ersten drei Jahre ihres Studiums oft in ihrer Heimatstadt oder zumindest in deren Nähe absolviert haben, streben viele dann einen weiteren Schritt in die Selbstständigkeit an. Obwohl viele Studierende nach ihrem dritten Studienjahr erstaunlich genau über ihre fachlichen Interessen Auskunft geben können (weit mehr als ich nach drei Jahren Studium), spielen die Schwerpunkte der jeweiligen Institute bei der Standortwahl nicht immer die erste Geige – vielen sind sie nicht einmal wirklich bekannt. Oft überstrahlt der Glanz der großen Städte (Berlin, Hamburg, Köln, München, Wien und Zürich) oder der klangvolle Name englischsprachiger Eliteuniversitäten den Wunsch, den im Bachelorstudium ausgeprägten inhaltlichen Vorlieben nachzugehen.

Die meisten musikwissenschaftlichen Institute im deutschsprachigen Raum werden von der historischen Musikwissenschaft und der Beschäftigung mit der „Kunstmusik“ der Vergangenheit dominiert. Dies scheint Studierende mit popmusikalischer Sozialisation aber nicht unbedingt abzuschrecken. Ganz im Gegenteil nehmen viele sechs Semester musikhistorische Ausbildung bewusst als Ergänzung ihrer eigenen Praxis und als Bereicherung wahr. Dass sie sich dann häufig eher gegen ein Masterstudium im Bereich historische Musikwissenschaft entscheiden, muss nicht einmal auf inhaltliches Desinteresse hindeuten, sondern dürfte nicht selten mit beruflicher Profilierung zusammenhängen.

In meinen Gesprächen in den letzten Jahren meine ich einen weiteren Mentalitätswandel bei vielen Studierenden festgestellt zu haben (hier handelt es sich um eine persönliche Beobachtung): Viele junge Menschen kommen mit einer sehr klaren Vorstellung ihrer beruflichen Zukunft an die Universität. Während an den altehrwürdigen geisteswissenschaftlichen Lehrstühlen noch das Humboldt’sche Bildungsideal beschworen wird, hat sich bei den Studierenden der von der Politik in den frühen 2000er Jahren angestrebte Wandel der Universität von der Bildungs- zur Ausbildungsstätte schon weitgehend vollzogen. Im Fall des Fachs Musikwissenschaft bedeutet das, dass sich berufsorientierte Studienangebote, wie etwa der Master Kultur- und Musikmanagement an der Musikhochschule in München, kaum vor Bewerbungen retten können und in der Folge strenge Zulassungsbeschränkung etabliert haben. Man kann von dieser Entwicklung sicherlich halten, was man will. Die Bedürfnisse eines Großteils der Studierenden allerdings nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen, ist nicht nur falsch, sondern auch gefährlich für die Existenz des Fachs. An zu wenigen Teilnehmer*innen scheiternde Studiengänge dürften sich für die Disziplin eher negativ auf die Entwicklung des Stellenplans einer Universität oder Hochschule auswirken. Ich fordere hier keineswegs den Umbau der gesamten Studienlandschaft, denn es gilt natürlich auch den Bedarf der Forschung zu berücksichtigen. Studierende „nur“ auf ihre Tätigkeit in einem künstlerischen Betriebsbüro, einer Zeitungsredaktion oder einer Konzertagentur vorzubereiten, würde sicherlich auf Kosten der Entwicklung des wissenschaftlichen Nachwuchses gehen. Die Forschung benötigt eine überschaubare Anzahl an wissenschaftlich gut ausgebildeten jungen Menschen. Nicht jede*r Musikmanager*in muss Modalnotation lesen können oder statistische Methoden beherrschen – genau dieser wissenschaftliche Nachwuchs wird allerdings benötigt.

Einen Ausweg aus dieser scheinbaren Zwickmühle weisen interessanterweise die Vorgaben der Bologna-Reform, denn ein sinnvoll modularisiertes Studiensystem erleichtert die Integration sogenannter fachfremder Inhalte ungemein. So wäre es an vielen größeren Universitäten vermutlich ohne übermäßigen finanziellen Aufwand möglich, gemeinsam mit anderen kunstwissenschaftlichen Fächern eine Gruppe von Modulen zu entwerfen, die auf die Berufspraxis in der Kreativwirtschaft zielen. Aus der Kombination solcher Studieninhalte mit ausgewählten wissenschaftlichen Kerninhalten der jeweiligen Fächer könnten dann berufsorientierte Studiengänge geschnürt werden, die parallel zum wissenschaftlichen Angebot existieren. Studierende in den wissenschafts- und den berufsorientierten Studiengängen würden also die Kernmodule (etwa Masterseminare) gemeinsam besuchen und sich dann gemäß ihrer Neigung spezialisieren.

Eines der Hauptziele der Modularisierung von Studiengängen und der Einführung des European Credit Transfer and Accumulation Systems (ECTS) war die Erhöhung der Vergleichbarkeit von Studieninhalten. Sie sollte den europäischen Studierenden Ortswechsel erleichtern. In den Studienplänen wurde nicht mehr nur die Präsenzzeit, sondern auch der zeitliche Aufwand für die Vor- und Nachbereitung von Kursen erfasst und quantifiziert. Für Studierende ist die Modularisierung (eigentlich) ein Stück neu gewonnene Freiheit, da sie nun ihre erbrachten Leistungen viel leichter von einem Studiengang in den nächsten transferieren können. Sie könnten bereits nach ihrem ersten Semester im Bachelorstudium von einem zum anderen Standort wechseln, ohne vollständig bei Null anfangen zu müssen. Inhaltlich wäre ein Studienortswechsel für Viele nicht selten eine Bereicherung, denn selbst Institute an großen Universtäten können von sich wohl kaum behaupten, jeden Teilbereich des Fachs in der Lehre vollumfänglich abzudecken. Die Rede von der Abdeckung „der ganzen Breite des Fachs“, die noch immer in Stellenausschreibungen auftaucht, wirkt (jedenfalls auf mich) oft unfreiwillig komisch.

Dozierende empfinden die Mobilität von Studierenden (sei es während eines Studiums oder zwischen Bachelor und Master) oftmals als Problem. Nicht nur der zusätzliche Verwaltungsaufwand dürfte hier abschreckend wirken, sondern auch das Gefühl, dass man sich – wenn Studierende jederzeit den Studienort wechseln können – letztlich in einen unbequemen Wettbewerb mit den Kolleg*innen an anderen Instituten begeben muss. Letzteres scheint mir jedoch eine Fehleinschätzung zu sein: Mobilität von Studierenden sollte nicht als Gefahr, sondern als Chance begriffen werden, möglichst die Menschen für den eigenen Studiengang zu gewinnen, die an den angebotenen Schwerpunkten interessiert sind. Studierende, deren Neigungen man eben nicht oder nicht vollumfänglich nachkommen kann, sollten auf Programme hingewiesen werden, die womöglich besser zu ihnen passen. Es gilt also nicht nur, Studieninteressierte ganz offen und jederzeit darüber zu informieren, was sie vor Ort schwerpunktmäßig erwartet, sondern ihnen auch jederzeit ihre weitergehenden Möglichkeiten aufzuzeigen.

Genau hier liegt aus meiner Sicht das eigentliche Problem: Es gibt im Fach Musikwissenschaft keine institutionalisierte Kommunikation zum Thema Lehre. Die meisten Kolleg*innen wissen über die Studienprogramme an anderen Universitäten und Hochschulen nur ausschnittsweise Bescheid. Die verschiedenen Fachvertretungen sehen den Bereich Lehre offenbar nicht als immer als zentrale Aufgabe an. Und so müssen sich Studierende einzeln durch die mehr oder weniger aussagekräftigen Beschreibungen der Studienprogramme auf den Websites der Institute wälzen oder fächerübergreifende Studienportale bemühen, die in der Regel lediglich Basisinformationen zu den Curricula enthalten. Niederschwellig ist das sicher nicht und ein engagiertes Werben um Talente geht anders! Aus meiner Sicht wird sich am Grundproblem sinkender Studierendenzahlen an vielen Standorten nichts ändern, bis man die Gestaltung und Weiterentwicklung der musikwissenschaftlichen Studienlandschaft als Aufgabe des gesamten Fachs begreift.

Zum Autor: Dr. Moritz Kelber ist Assistent am Institut für Musikwissenschaft der Universität Bern und Mitglied in der Redaktion von musiconn.kontrovers.

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