Postkarte aus Southampton

Der Brite Edward Colston war ein mörderischer Sklavenhändler. Von seinen Schiffen wurden einst versklavte Afrikaner, die wegen Krankheit für seine Royal African Company nichts mehr „wert“ waren, lebendig in den sicheren Tod von Bord geschmissen. Deshalb wirkte der Moment, in dem seine Statue in den Hafen der Universitätsstadt Bristol platschte, auf mich und viele andere wie eine Erleichterung. Endlich passierte einmal etwas, auch wenn es tragischerweise den brutalen, öffentlichen Polizeimord an George Floyd und das darauffolgende Wiederaufflammen der Black-Lives-Matter-Bewegung brauchte, um so weit zu kommen. Die Statue, von stolzen Bürgern in der späten Viktorianischen Zeit errichtet, erinnert(e) an Colstons Wohltätigkeit. Schon vor Jahren entbrannte ein heftiger Streit darüber, ob ein Mann, der sein Vermögen dem Menschenhandel verdankte, noch so ein Monument verdiene. Viele Jahre des Hin und Her brachten keine Veränderung. Man stritt über Vorwürfe von „Geschichtsklitterung.“

Das Wort ist deutschen Leser*innen wohl bekannt. Nur hier, in England, standen die Zeichen umgekehrt. Man müsse die Statue schon stehen lassen, lautete das Argument, wegen Colstons vieler guten Taten, und im Übrigen sei das mit der Sklaverei ja zu Colstons Zeit leider weitgehend hof- und salonfähig gewesen. Bristols schwarze Bürger, auf die die Statue wie eine bedrohende Beleidigung wirkte, hätten das bitteschön zu verstehen. Mir – einem Wahlbriten US-amerikanischen Ursprungs, der auch lange in Deutschland gelebt hat – kam das vor, als ob man in Deutschland eine Hermann-Göring-Kaserne noch so heißen ließe, da der dicke Reichsmarschall so viel Gutes für die deutsche Luftfahrtindustrie getan habe, und die NS-Herrscher bekannterweise – leider! – demokratisch gewählt worden waren. Diejenigen, die daran Anstoß nehmen, etwa Bürger*innen jüdischen Glaubens oder Menschen, die keine Nazis mögen, sollten da Nachsicht üben. Was in Deutschland undenkbar ist, gilt hier als schlaues Realistenargument.

Musikkenner*innen wussten auch von der Colston-Sache, da ein schöner Konzertsaal – neulich für teures Geld renoviert – nach ihm benannt worden ist, oder war. Schon vor Colstons Sturz wurde beschlossen, den Saal umzubenennen (auf wen oder was steht noch nicht fest). Erst heute, am 15. Juni 2020, aber wurde Colstons Name von der Fassade des Konzerthauses entfernt. Die Statue wurde übrigens schon nach wenigen Tagen aus dem Wasser gefischt und soll ins Stadtmuseum, wo sie schon lange hingehört. Die Fachkuratoren dort haben vor, die Statue inklusive der Spuren seiner gewalttätigen Entfernung wieder aufzustellen. Das passt zu einem Mann, der tausende Menschen, unter ihnen viele Kinder, mit den Initialen seiner staatlichen Monopolfirma buchstäblich hat brandmarken lassen, bevor er sie in den frühen Tod in der Plantagen-Hölle der britischen Karibik geschickt hat.  

Der Gedanke, dass Colstons Wassertaufe Erleuchtung bringen könnte, hielt nicht lange vor. Schon nach wenigen Tagen kamen neue Vorwürfe der „Geschichtsfälschung“, vor allem nachdem Demonstranten das Wort „Racist“ auf das Churchill-Denkmal auf dem Parliament Square in London geschmiert hatten. Obwohl es kaum einen gibt, der allen Ernstes behauptet, der Kriegspremier sei kein Rassist gewesen, war das wohl ein Schritt zu weit für Parteien (inklusive Opposition) und Presse. Sofort war der Churchill-Biograf Boris Johnson, der durch den schweren Verlauf von Covid-19 hierzulande arg in politische Bedrängnis gekommen ist, mit düsteren Mahnungen zur Stelle: Wir dürfen keine Lügen über unsere Geschichte tolerieren! [paywall]. Manche Kollegen versuchen, dagegen zu wirken. Nicht unsere Statuen, sondern wir Menschen erzählen Geschichte, wird von meiner Southampton Kollegin Charlotte Lydia Riley zu recht argumentiert. Es bleibt zu bezweifeln, ob in dem ganzen Lärm irgendjemand diese Wahrheit hört. Die Diskussion wird sich wohl lange in eine eher unergiebige Richtung bewegen.

In der britisch-europäischen Musikgeschichte gibt es auch unangenehme Sklavereiverstrickungen. Kein Geringerer als George Frederic Handel (um die von ihm präferierte Schreibweise seines Namens zu benutzen) war einige Jahrzehnte nach Colstons Tod Investor in der Royal African Company. Wie der Musikhistoriker David Hunter dargelegt hat, verdiente der Komponist an der Versklavung von Menschen gutes Geld. Und nicht nur Handel. Neulich hat Hunter eine weitere Studie vorgelegt, die zeigt, wie die Familie Mozart mit dem reichen Plantagenbesitzergeschlecht Beckford in England und Italien verkehrte, und wie Peter Beckford, Besitzer von 662 Versklavten auf Jamaika, auf einer Romreise den 14-Jährigen Muzio Clementi von dessen Vater „gekauft“ hat. Dass etwaige Handel-Statuen nun auch ins Wasser müssen, ist zu bezweifeln. Aber ganz unangekratzt werden sie wohl nicht bleiben. Die Aufgabe wäre, diese Musik, die vielen von uns soviel bedeutet, besser und menschlicher zu hören und zu verstehen, auch wenn ein solches Verstehen weh tut.

Noch schlimmer bedrängt uns die Gegenwart. In diesen Tagen haben hunderte von Studierenden und Lehrenden einen offenen Brief an die Music Faculty der Cambridge University unterschieben, der eine flächendeckende Entkolonisierung des Faches an der Traditionsuni fordert. Die Institutsleitungen an den britischen Universitäten bleiben meistens stumm, was vielleicht erst einmal weiser ist, da wohl niemand weitere scheinheilige Solidaritäts- und Leidesbekundungen braucht. Denn die Lage, die in dem Brief der Cambridge Studierenden geschildert wird, ist beschämend. Im ganzen Lande kann man die Zahl von Schwarzen Doktorand*innen und Postdocs – geschweige denn Festangestellten! – in der Musikwissenschaft wahrscheinlich an einer Hand abzählen. Bei den Undergraduates, sieht es, soweit ich es beurteilen kann, kaum besser aus. Musikwissenschaft (inklusive Music Theory und Ethnomusicology) wird hierzulande zusammen mit dem ebenso an Diversität mangelnden Fach Komposition gelehrt. Die Whiteness unseres gemeinsamen Unternehmens ist überwältigend, und von einer Entkolonisierung des Lehrplans sind wir noch weit entfernt. Es ist nun allerhöchste Zeit, mit Demut, Reue und ja einer Prise Rage dieser unerträglichen Lage ein Ende zu setzen.

Zum Autor: Thomas Irvine ist Associate Professor in Music an der Universität Southampton. Sein Essay über Hubert Parrys „white supremacist“ Musikgeschichtsschreibung ist wegen der gegenwärtigen Situation frei abzurufen.

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