Snobbery in the UK?: Musik(wissenschaft) und Klasse in Großbritannien
Briten sind bekanntermaßen von Klasse und Klassenbewusstsein besessen, wovon nicht nur Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, sondern auch der britische Humor zeugen. Diese Obsession mag zwar zuweilen groteske Züge annehmen, zumindest aber führt sie zu einer Reflexion über die sozialen Kontexte von kulturellen Praktiken, wie sie im deutschsprachigen Raum, wo ein vordergründiger Egalitarismus die weitgehend uneingeschränkte Diskurshoheit der bürgerlichen Mittelschicht kaschiert, kaum stattfindet. Musik ist keine Ausnahme: Sie eignet sich besonders zur sozialen Identifikationsstiftung und zur Akkumulation von „kulturellem Kapital“ (Bourdieu). Ob man will oder nicht: Jedes Genre, jeder Stil und jede Praxis lassen sich minutiös zuordnen. Das ist im deutschsprachigen Raum nicht anders, wird aber seltener zur Sprache gebracht als in Großbritannien. Dabei geht es aber schon lange nicht mehr nur darum, Prestige durch Kultivierung eines ‚guten Geschmacks‘ – sprich eines nach gängigem Bildungskanon hochwertigen Kulturguts – zu erlangen; das Gegenteil – class tourism und slumming, also die Nachahmung von kulturellen Praktiken der „Unterschicht“[1] – sind ebenso verbreitet. So wie nach wie vor received pronunciation (in Deutschland oft als „Oxford-Englisch“ bezeichnet) viele Türen öffnet, so soll im Gegenteil Mockney (ein falscher Cockney-Akzent) street cred(ibility) garantieren. Als klassisches Beispiel für den Mockney-Akzent gilt etwa Mick Jagger, der immerhin an der London School of Economics studiert hat.
Bezeichnenderweise ranken sich viele Legenden um die soziale Herkunft von Pop- und Rock-Bands: Die Konkurrenz zwischen denen der Arbeiterklasse zugeordneten Beatles und den vermeintlich besser gestellten Rolling Stones wurde in den Siebzigern durch die Sex Pistols und The Clash und in den Neunzigern von Oasis und Blur wiederbelebt. Die Wirklichkeit war natürlich komplizierter: Nicht nur ist soziale Identität häufig komplex und ambivalent, zudem spielte sich oft der Kontrast eher innerhalb der Bands, also etwa zwischen Paul McCartney und John Lennon oder Mick Jagger und Keith Richards, als zwischen ihnen ab. Wie auch immer mit den Details umgegangen wird, entscheidend ist hier, dass die soziale Herkunft und Zuordnung häufig implizit oder explizit als Schlüssel für eine interpretatorische oder historiografische Einordnung betrachtet wird. Snobismus und Populismus widersprechen sich dabei nicht einfach, sondern bedingen einander und treten zudem in allerlei Kombinationen gemeinsam auf.
Self-fulfilling Prophecy
Das Gleiche gilt auch für die klassische Musik, nur dass hier nach wie vor häufig der soziale Kontext ignoriert oder schlicht geleugnet wird, so als transzendiere die Musik ihre Herkunft und spiele sich ganz im Idealraum ästhetischer Immanenz ab. Dennoch: Wie kaum eine andere Musikform ist die klassische Musik auch und gerade in Großbritannien an die höheren Schichten gebunden. Ob man die Produktion oder den Konsum misst, die Daten sind meist recht eindeutig. Nicht dass hierzulande die Pflege der klassischen Musik in der ‚besseren Gesellschaft‘ insgesamt weit verbreitet wäre: Der traditionell stark ausgeprägte Anti-Intellektualismus hat schon immer für eine gewisse Skepsis gegenüber der Hochkultur, insbesondere ausländischen Ursprungs, gesorgt, und der Thatcherismus brachte eine weitere Verengung auf materielle Werte mit sich. Zudem drückt sich nach der Omnivore-Theorie von Peterson und Simkus kulturelles Prestige nicht mehr nur in der Bevorzugung kanonisierter Hochkultur aus, sondern in der bunten Kombination von vielen verschiedenen Stilen und Gattungen. Wer etwas auf sich hält und andere beeindrucken will, schwärmt also nicht mehr nur vom letzten Sommer in Bayreuth, sondern bewegt sich als kultureller Allesfresser virtuos zwischen Beyoncé, Stormzy, Brad Mehldau, Mahan Esfahani und Rebecca Saunders. Dennoch sind sich die meisten Beobachter einig, dass es nicht gleichgültig ist, was wie kombiniert wird, und dass klassische Musik nach wie vor stark mit den oberen Schichten assoziiert wird.
Am drastischsten zeigt sich dies an der sozialen Herkunft von Konservatoriumsstudent*innen: Seit vielen Jahren zählen die Musikhochschulen dem Anteil der Studierenden nach, die an einer Privatschule ihren Schulabschluss gemacht haben, zu den elitärsten Institutionen. So haben zuletzt die Royal Academy of Music 37,5 % und das Royal College of Music 44,8 % ihrer einheimischen Student*innen von den Absolvent*innen der staatlichen Schulen rekrutiert. Zum Vergleich: 93 % aller Schüler*innen gehen auf staatliche Schulen, und selbst die Universität Oxford, die nach diesen Kriterien elitärste reguläre Universität, bezieht immerhin 62,2 % ihrer Studenten aus dieser Quelle.
Die qualitativen Erkenntnisse untermauern diese Daten. Eine detaillierte Studie von Mitgliedern von Jugendorchestern von Anna Bull fällt hier recht ernüchternd aus.[2] Nicht nur fiel es Bull schwer, überhaupt genug Teilnehmer*innen aus der Arbeiterklasse oder der unteren Mittelschicht zu rekrutieren, sondern diese hatten auch eine grundlegend andere Weltsicht als die ihrer sozial besser gestellten Mit-Musiker*innen. Während die Musiker*innen aus der Mittelschicht überwiegend angaben, aus einer „musikalischen Familie“ zu stammen, mit klassischer Musik aufgewachsen zu sein und auf geradem Weg eine Karriere als Berufsmusiker*in angegangen zu sein oder dies vorhätten, berichteten die Teilnehmer*innen aus relativ niedrigen sozialen Schichten, dass sie die Musik für sich selbst entdeckt und weder für ihre Vorliebe noch für eine etwaige Berufswahl aus dem Elternhaus Unterstützung, sondern im Gegenteil nur Unverständnis oder sogar direkte Ablehnung erfahren hätten. Interessant ist hierbei auch, dass sich die zweite Gruppe ihrer sozialen Herkunft sehr bewusst war, wogegen die erste diese unerwähnt ließ, dafür jedoch das musikalische Milieu betonte. Die zweite Gruppe war außerdem insgesamt weniger selbstbewusst und eher dazu geneigt, sich in Konzertsälen, auf Podien und in formeller Kleidung unwohl zu fühlen, wogegen sich die erste in einer solchen Umgebung souverän bewegte.
Die Frage, die Bull so nicht stellt, ist, wie es zu einer solchen Spaltung kommen konnte. Hier muss man auf die Politik verweisen. Die staatlich geförderte Musikerziehung unterliegt sowohl dem Erziehungswesen, also den Schulen, als auch den Gemeinden, durch die Local Authority Music Services (also den örtlichen Musikschulen). An beiden wurde seit Jahren gespart, bei den Gemeinden besonders brutal. Im Schulsystem kommt noch dazu, dass jede der regelmäßig wiederkehrenden Reformen eine Konzentration auf die ‚Kernkompetenzen‘ wie Englisch und Mathematik vorsieht und dass künstlerische Fächer als weitgehend überflüssig, da ökonomisch unrentabel, angesehen werden. (Dass diese Ideologie weder pädagogisch noch ökonomisch fundiert ist, steht auf einem anderen Blatt). Zunächst wurde Musik aus dem EBacc (dem English Baccalaureate) entfernt; spätestens seitdem schwindet die Anzahl der Schulen, die spezialisierten Musikunterricht anbieten, beständig. Gleichzeitig warnen Minister Schüler*innen explizit vor vermeintlich brotlosen künstlerischen Fächern. An den örtlichen Musikschulen sieht es ähnlich aus: Obwohl sie eigentlich allen Schüler*innen das Erlernen eines Instruments ermöglichen sollen, schließen in der Praxis die fälligen Gebühren die meisten aus.
Im neoliberal geprägten England mag dies niemanden verwundern, aber auch in Schottland, das sich gerne als Sozialdemokratie skandinavischen Vorbilds wähnt, sieht es ähnlich aus (in Wales und Nordirland wohl ebenso). Zwar verspricht ein Dokument des Erziehungsministeriums, „allen Lernenden einen gleichberechtigten Zugang zum Erleben der expressiven und kreativen Qualitäten der Musik durch das Erlernen eines Musikinstruments/von Musikinstrumenten zu ermöglichen“, in Wirklichkeit erhalten aber nur 8,1 % der Schüler*innen Instrumental-Unterricht an ihrer örtlichen Musikschule (normalerweise gegen Aufzahlung), und auch hier liegt der Anteil in ärmeren Gegenden sehr viel niedriger als in wohlhabenden.
Ist es in einer solchen Situation überraschend, dass überwiegend Schüler*innen und Student*innen aus ‚besseren Familien‘, die Zugang zu Privatunterricht oder Privatschulen haben, Musik studieren? Der oft beklagte Elitismus der Konservatorien und insbesondere der klassischen Musik ist also eine self-fulfilling prophecy: Wenn alle anderen ausgeschlossen werden, bleiben nur noch die oberen Schichten übrig. Je exklusiver die Szene aber wird, desto größer ihr Image-Problem und die Tendenz, die öffentliche Förderung für eine solche Minderheitenkultur, die scheinbar nur von den ohnehin Bessergestellten genutzt wird, weiter zu kürzen – und umso weniger attraktiv scheint sie für sozial Schwächere, die sich als Außenseiter sehen und für die der Zugang noch schwerer wird. Ein echter Teufelskreis.
Falsche Propheten
Noch komplizierter wird die Situation durch neue Anbieter wie das aus Venezuela stammende El Sistema, sozusagen die Freikirchler der Musikerziehung.[3] Erscheint die traditionelle Musikerziehung oft konservativ und dröge, so kann El Sistema durch seinen messianischen Elan und seine Heilsversprechungen überzeugen, was 2008 zur Gründung von Big Noise, einer Zweigstelle von El Sistema, in Raploch, einem Problembezirk des ansonsten beschaulichen zentral-schottischen Städtchens Stirling führte, worauf weitere Projekte in Schottland und England folgten. Einerseits lässt sich nicht leugnen, dass El Sistema Kinder und Jugendliche anspricht, die von der traditionellen Musikerziehung eher nicht erreicht werden (obwohl Kritiker darauf hinweisen, dass auch hier der Anteil an besser gestellten Schüler*innen höher ist, als es zunächst den Anschein haben mag), andererseits aber werden hier Summen investiert, wie sie den traditionellen Musikschulen schon lange nicht mehr zugutekommen. Was also zunächst nach einer Wiederbelebung aussehen mag, erscheint bei näherer Betrachtung mehr als eine Form von Kannibalismus: Ein flächendeckendes Netzwerk für alle wird zugunsten einzelner publizitäts-trächtiger Vorzeige-Projekte vernachlässigt. Zudem feiert hinter der freundlichen Fassade von El Sistema eine Ideologie fröhliche Urständ, wie sie sonst in der Musikerziehung auch klassischer Prägung nicht mehr zu finden ist und die man nur als reaktionär bezeichnen kann. So ist es nicht etwa das gemeinsame Musikmachen als solches, dem von El Sistema eine positive soziale Wirkung zugesprochen wird, sondern es geht eindeutig um traditionelle klassische Musik. Die verschiedenen Zweigstellen des Netzwerks setzen die Akzente ein wenig unterschiedlich, für El Sistema als Ganzes gilt jedoch eine klare Hierarchie, in der die bürgerliche, abendländische Hochkultur eindeutig an erster Stelle steht (was besonders im Ursprungsland Venezuela recht brisant ist). Andere Musikformen werden entweder ignoriert oder zweitrangig behandelt. Die Gründe für diese Bevorzugung liegen zudem an Aspekten, die man anderswo eher kritisch betrachtet. So ist die besondere Wertschätzung für das Symphonie-Orchester etwa darin begründet, dass es die strikt hierarchische Gesellschaftsordnung des 19. Jahrhunderts zu repräsentiert. Die Werte, die hier vermittelt werden sollen, sind also nicht etwa Kreativität und individueller Ausdruck, sondern vielmehr Disziplin und Gehorsam. Zuletzt kam El Sistema aufgrund von Berichten über jahrelangen und weit verbreiteten sexuellen Missbrauch in die Schlagzeilen. Man könnte meinen, dass hier keine direkte Beziehung zu Ziel und Inhalt der Institution bestünde; eine solche Einschätzung würde aber verkennen, wie sehr Missbrauch durch strenge Hierarchien und mangelnde Transparenz, wie sie für El Sistema charakteristisch sind, begünstigt wird.
An den Universitäten hat sich El Sistema noch nicht bemerkbar gemacht. Dort ist man jedoch vom allgemeinen Niedergang der Musikerziehung betroffen. Zwar ist das Studienprogramm in den meisten Fällen nicht mehr auf die abendländische Kunstmusik beschränkt, sondern umfasst, je nachdem, auch Popularmusik, nicht-westliche, Film- oder traditionelle Musik; dennoch sind die Studierenden zumal der traditionellen Institutionen weit davon entfernt, die Breite und Vielfältigkeit der Gesamtgesellschaft zu repräsentieren. Die schon angesprochene Spaltung spiegelt sich hier sowohl in der Studiengang- als auch der Institutionswahl wider: Während die Schulabgänger*innen aus dem Bürgertum eher zum Musikstudium an renommierte Universitäten gehen, tendieren andere zur Musiktechnologie, die eher von neueren Institutionen wie ehemaligen Fachhochschulen angeboten wird und zumeist mehr auf Popularmusik und weniger auf traditionellen Fähigkeiten wie Notenlesen, Musiktheorie und Instrumentalspiel basiert. Wachsenden Zulauf haben auch kommerzielle Popmusikschulen zu verzeichnen, die ihren Absolvent*innen den mehr oder weniger direkten Einstieg in die Musikindustrie versprechen. Diese Aufgliederung zeigt sich auch anhand der Geschlechterbalance: Während im traditionellen Musikstudium Frauen meist die Mehrheit stellen, ist es in Musiktechnologie und kommerzieller Musik andersherum.[4]
Was tun? Es gibt auch und gerade in Großbritannien progressive Traditionen, die die Pflege der klassischen Musik – neben anderen Formen – in die Massenkultur als solche und speziell auch die Arbeiterbewegung integriert haben. Herausragende Beispiele hierfür sind die Brass Bands und Choral Societies, die vor allem im 19. Jahrhundert entstanden sind.[5] Brass Bands waren zumeist an Industrie-Betriebe und Bergwerke, Choral Societies oft an die Mechanics’ Institutes, die Bildungseinrichtungen der Arbeiterbewegung, gebunden. In beiden engagierten sich teilweise Millionen Menschen, und auch heute noch sind es viele Tausend. Das Programm ist oft gemischt (und warum auch nicht?), aber durchaus anspruchsvoll, und die Qualität auf höchstem Niveau. Bis zum heutigen Tag entstammen viele Profimusiker diesem Milieu. Ein ähnliches Beispiel, das aber Zuhörer*innen und nicht aktive Musiker anspricht, sind die ‚Proms‘ (Henry Wood Promenade Concerts), die 1895 von Robert Newman gegründet wurden und seit 1927 von der BBC ausgerichtet werden. Vor Covid nahmen regelmäßig über 300000 Besucher teil, und Stehplatz-Karten gibt es schon ab £ 7.12 (jahrelang waren es £ 5). Die Atmosphäre in der Royal Albert Hall, dem Hauptveranstaltungsort, in dem mehr als 5000 Zuhörer Platz finden, erinnert häufig eher an ein Volksfest als an bürgerliches Konzertritual, aber die Programme sind durchweg hochrangig, einschließlich zahlreicher Uraufführungen.
Gewiss ist allen drei Beispielen gelegentlich ein gewisser Konservatismus eigen, aber von Elitismus, Exzeptionalismus oder Borniertheit, wie man sie nicht immer zu Unrecht der klassischen Musikkultur nachsagt, ist keine Spur. Es geht hier auch nicht darum, das Heil ausschließlich in den Traditionen des 19. Jahrhunderts zu suchen, sondern darzustellen, dass diese Traditionen nicht notwendigerweise sozial exklusiv sein müssen, auch oder gerade, wenn sie sich vornehmlich der klassischen Musik widmen. Allerdings: Der gleichberechtigte Zugang zur Musik beruht letztlich auf der angemessenen Förderung sowohl der schulischen als auch der außerschulischen Musikerziehung, die sich möglichst an alle Bevölkerungsgruppen wenden muss – unabhängig von sozialer oder kultureller Herkunft sowie überkommener Werte- oder Stilhierarchien. Daran führt kein Weg vorbei.
Nachtrag: Am 14. Juli hat die schottische Regierung bekanntgegeben, dass ab sofort keine Gebühren mehr für den schulischen Instrumentalunterricht erhoben werden.
Zum Autor: Björn Heile ist Professor of Music an der University of Glasgow.
[1] Im 19. Jahrhundert gab es in New York und London regelrechte Touren durch die Slums. Heutzutage werden die Begriffe meist figurativ verwendet.
[2] Anna Bull, Class, Control, and Classical Music, Oxford University Press 2019.
[3] Zu El Sistema gibt es eine recht umfangreiche Bibliografie, die detaillierteste Studie ist Geoffrey Baker, El Sistema: Orchestrating Venezuela’s Youth, Oxford University Press 2014.
[4] Die offizielle Statistik erfasst Student*innenzahlen unter anderem nach Fächern, Geschlecht und Region, unterscheidet aber leider nicht zwischen verschiedenen Anbietern oder Studiengängen (unterhalb des Oberbegriffs ‚Music‘): https://www.ucas.com/data-and-analysis/undergraduate-statistics-and-reports/ucas-undergraduate-sector-level-end-cycle-data-resources-2020.
[5] Siehe u. a. Dave Russell, Popular Music in England, 1840–1914: A Social History, McGill-Queen’s University Press 1987.
Kommentar schreiben