Auf der Systemgrenze. Artistic research zwischen Kunst und Wissenschaft
Das Thema ‚künstlerische Forschung‘ ist zweifellos dazu geeignet, Kontroversen zu provozieren. Anderswo sind artistic research-Programme bereits seit langem als sogenannter third cycle in die musikalisch-künstlerische Ausbildung integriert; in Deutschland befinden sie sich vielerorts noch in der Konzeptions-, Entstehungs- oder Erprobungsphase. In einem öffentlichen Positionspapier mahnte die Gesellschaft für Musikforschung 2014 dazu, das Profil entsprechender Studiengänge und der damit verbundenen Abschlüsse mit aller gebotenen Sorgfalt zu entwerfen. Keinesfalls dürfe ‚künstlerische Forschung‘ zu einer Promotion light gerinnen: Ein Titel wie der Dr. mus.müsse strukturell deutlich vom Doktorat geisteswissenschaftlicher Provenienz differenziert sein, dabei aber selbstverständlich als Gütesiegel ernstzunehmender wissenschaftlicher Leistungen vergeben werden. Der folgende Beitrag wirft zunächst einen systemtheoretisch informierten Blick auf das Konstrukt ‚künstlerische Forschung‘; anschließend macht er den Vorschlag, das derzeit expandierende Feld musikalischer Interpretationsforschung als Projektlandschaft für Forschungsvorhaben auf der Systemgrenze zwischen Kunst und Wissenschaft zu nutzen.
Künstlerische Forschung, systemisch betrachtet
Geht man von Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme aus, so bilden Kunst und Wissenschaft zwei voneinander strukturell geschiedene, operational geschlossene Bereiche der modernen Gesellschaft.[1] Sie beobachten ihre Umwelt nach völlig verschiedenen Kriterien, erfüllen unterschiedliche gesellschaftliche Funktionen und organisieren ihre Kommunikation nach gänzlich divergenten Regeln. Ein wissenschaftlicher Aufsatz muss sich, um zu wahrheitsfähigen Aussagen zu gelangen, auf wissenschaftliche Theoriebildung und Methodik stützen, und er muss zu seinen Forschungsergebnissen auf streng argumentativem Weg gelangen. Der Erfolg künstlerischer Aktivität wird an anderen Kriterien gemessen, etwa an Stilvorgaben, künstlerischer Tradition oder an den Gesetzen individuell-personenbezogener Kreativität. Der Erfolg einer Forschungsarbeit wird nach den Regeln wissenschaftlicher Kommunikation beurteilt; das Produkt künstlerischen Schaffens hingegen muss vor einem ästhetischen Urteil bestehen. So betrachtet erscheint der Gedanke ‚künstlerischer Forschung‘ hybrid im schillernden Sinn des Wortes, jedenfalls dann, wenn man den Begriff ‚Forschung‘ als Signal für Wissenschaftlichkeit versteht. Sich ein Projekt vorzustellen, dessen Ergebnis durch wissenschaftliche Theoriebildung legitimiert ist und den Maßstäben wissenschaftlicher Methodik folgt, dabei zugleich die Eigenkomplexität einer künstlerischen Kreation aufweist und durch Stimmigkeit der ästhetischen Bezüge überzeugt, ist keine triviale Aufgabe. Aus systemtheoretischer Sicht jedenfalls kann ein (Forschungs-)Vorgang nicht zugleich wissenschaftlich und künstlerisch sein – möglich ist immer nur eines von beiden. Vorstellbar sind allerdings Projekte, die wissenschaftliche und künstlerische Anteile enthalten.
Freilich: Die Figur des researching artist existiert längst; im musikalischen Bereich ist sie etwa aus der Historisch informierten Aufführungspraxis als „Typus des ‚forschenden Interpreten‘“[2] bekannt. Doch benennt das Schlagwort Aufführungspraxis deutlich die Zielrichtung solchen Forschens: Als künstlerische Praxis ist etwa „Alte Musik“ dem Kunstsystem zugeordnet, nicht dem Wissenschaftssystem. Dass Quellenarbeit in diesem Bereich denn auch nicht immer mit wissenschaftlicher Genauigkeit (z. B. in Form einer fundierten Quellenkritik) betrieben wurde,[3] ist daher nicht negativ zu bewerten, sondern als systemimmanent anzuerkennen: Wenn das Studium historischer Quellen letztlich der Genese eines künstlerischen Produkts dient, das sich als ästhetischer ‚Gegenstand‘ zu bewähren hat (nicht als wissenschaftlicher), muss der Umgang mit historischen Daten ein künstlerischer, nicht ein wissenschaftlicher sein. Andererseits macht gerade dieses Beispiel das Risiko ‚künstlerischer Forschung‘ deutlich: Die Möglichkeit besteht, dass deren Ergebnis nur aus einer von zwei systemischen Perspektiven befriedigt, der künstlerischen oder der wissenschaftlichen, nicht aber aus beiden – oder aber, im schlimmsten Fall, aus keiner von beiden. Als besondere Herausforderung wird in diesem Zusammenhang ein komplexes Rollenmanagement erkennbar: Die Rollen von Wissenschaftler*in und Künstler*in müssen zugleich von einer Person übernommen werden, zumindest solange das in der geisteswissenschaftlichen Tradition fest eingewurzelte Prinzip der individuellen Forschungsleistung beibehalten wird.
Vorschlag: Kooperation von Forschung und Praxis
Dies aber ist ja nicht unbedingt notwendig. In ihrem Beitrag zum jüngst erschienenen Kompendium Musik aufführen. Quellen – Fragen – Forschungsperspektiven schlagen Axel Weidenfeld und Peter Schleuning vor, Fragen der historischen Aufführungspraxis im Rahmen „einer fruchtbaren Zusammenarbeit von Musikforschung und Musikpraxis“[4] zu klären. Diesen Vorschlag möchte ich aufgreifen und dabei auf den in jüngerer Zeit expandierenden Bereich der Interpretationsforschung (bzw. ihres Pendants im anglophonen Sprachraum, der Performance Studies) als ein geeignetes Feld für artistic research-Projekte hinweisen.
Interpretationsforschung und Performance Studies erleben seit dem „performative turn“, der mit den Humanwissenschaften im Zuge der 1990er Jahre auch die Musikwissenschaft erfasste, einen zunehmenden Aufschwung.[5] Obgleich auch in diesem Bereich die Tradition der individuellen Forschungsleistung gepflegt wird, sind doch in jüngerer Zeit verschiedene großangelegte Projekte auf den Plan getreten, deren Setting von vornherein auf Teamleistungen hin konzipiert war, teils mit deutlich interdisziplinärem Charakter. Exemplarisch genannt seien hier drei sehr verschieden akzentuierte Projekte: Verkörperte Traditionen romantischer Musikpraxis (Bern, 2015–2017), Technologien des Singens (Detmold/Paderborn, 2016–2021) und PETAL (Performing, Experiencing and Theorizing Augmented Listening, Graz 2017–2020).[6] In solchen Projekten arbeiteten Wissenschaftler*innen im Team zusammen, teils im engen Austausch mit Künstler*innen oder Vertreter*innen weiterer gesellschaftlicher Bereiche, um ihre Forschungsgegenstände von divergenten Perspektiven her anzufassen und dabei systemübergreifende Synergieeffekte zu erzielen. Im Bereich der Interpretationsforschung ist der Nutzen solch multipler Perspektivierung evident: Selbst dort, wo auf der Grundlage exakter, softwarebasierter Messungen gearbeitet wird (etwa mithilfe des Computerprogramms Sonic Visualiser), erfordert die Gewinnung der Rohdaten häufig qualitative Entscheidungen von einiger Komplexität. Wenn z. B. bei der Auswertung einer historischen Gesangsaufnahme die Anzahl der Portamenti bestimmt werden soll, stellt sich die Frage: Wo liegt die Grenze zwischen hörbaren, aber ästhetisch irrelevanten Gleitbewegungen (wie sie beim sängerischen Tonhöhenwechsel immer wieder auftreten) und echtem Portamento?[7] Fragen wie diese werden notwendigerweise mit einer gewissen Kontingenz beantwortet; dem kann durch Investigator-Triangulation effektiv begegnet werden, also dadurch, dass mehrere Forschende zugleich den Analysegegenstand bearbeiten.[8] Es liegt nahe, für ein Forschungsteam im Bereich der Interpretationsforschung neben Wissenschaftler*innen auch Vertreter*innen der künstlerischen Praxis (im Fall der Portamento-Frage also z. B. Sänger*innen) zu akquirieren. So hat das Grazer Projekt PETAL, das musikalische Makroform als performatives Ereignis, als Resultat performativer Entscheidungen von Musizierenden untersucht, in mehreren Workshops gezeigt, wie befruchtend der direkte Austausch mit praktizierenden Musiker*innen für Genese und Bearbeitung musikwissenschaftlicher Fragestellungen sein kann, und wie anregend umgekehrt die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Herangehensweisen auf die künstlerische Praxis wirken kann.[9]
Damit soll nicht suggeriert sein, dieser Austausch sei leicht zu bewerkstelligen: Er ist es keineswegs. Aus systemtheoretischer Sicht ändert sich der Informationsgehalt einer Mitteilung automatisch, wenn diese in einem anderen System verarbeitet wird als dem, dem sie entstammt, denn jenseits der Systemgrenze wird nach anderen Kriterien kommuniziert als diesseits. Eindrucksvoll hat etwa die bedeutende Gesangspädagogin Franziska Martienßen-Lohmann die Divergenz zwischen sänger*ischer Sicht und physiologisch-naturwissenschaftlicher Sicht auf die körperlichen Vorgänge während des Singens beschrieben.[10] Auch hinsichtlich der oben genannten Frage nach dem ‚echten‘ Portamento ist davon auszugehen, dass die Perspektive darauf für Sänger*innen, die Portamento am eigenen Leib als physische Realität erfahren haben, eine andere ist als die von Wissenschaftler*innen, die sich demselben Phänomen durch die elektronische Messung akustischer Daten nähern. Doch profitiert der wissenschaftliche Blick vom Verständnis der künstlerischen Perspektive, indem er es zur Differenzierung und Erweiterung seiner Untersuchungskriterien nutzt, ebenso wie die Teilhabe an wissenschaftlichen Beobachtungen für die künstlerische Praxis befruchtend sein kann, von der bloßen Erweiterung des stilkundlichen Überblicks über das Training von „Handlungs- und Körperwissen“ durch die „Embodiment-Methode“ bis hin zum „Reenactment“ historischer Musiziersituationen.[11] Wenn aber wissenschaftliche Kommunikation systembedingt nicht ohne Weiteres an künstlerische Kommunikation anschließen kann (und umgekehrt), dann ist für entsprechendes Teamwork eine besonders sorgfältige Kommunikationskultur vonnöten. Zwischen Kunst und Wissenschaft interdisziplinär angesiedelte Forschungsarbeit setzt also ein aufwändiges Kommunikationstraining voraus: Damit die Codes der jenseits der Systemgrenze gebräuchlichen Kommunikationsweise verstanden und der dort praktizierte Umgang mit dem gemeinsam untersuchten Gegenstand für die eigene Tätigkeit fruchtbar werden können, müssen die beim künstlerisch-wissenschaftlichen Grenzverkehr vorprogrammierten Übersetzungsschwierigkeiten a priori eingeplant und systematisch bearbeitet werden. Für Künstler*innen setzt dies voraus, wissenschaftliches Arbeiten, Theorie-, Methoden- und Kriterienbildung zu erlernen, mit dem Ziel, die eigene Expertise so zu erfassen und zu präsentieren, dass Vertreter*innen des anderen Systems daran anschließen können. Für Wissenschaftler*innen wiederum bedeutet es, sich die Gesetzmäßigkeiten ästhetisch normierten Verhaltens und Verstehens anzueignen, mit dem Ziel, eigene Beobachtungen so zu formulieren, dass von künstlerischer Seite aus darauf zugegriffen werden kann. Für beide Seiten geht es darum, eigene Fragen und Bedarfe so zu äußern, dass jenseits der Systemgrenze eine produktive Reaktion darauf möglich ist. Für beide Seiten stellt sich umgekehrt die Aufgabe, die beim Wechsel der systemischen Perspektive erlernten Fertigkeiten in die eigene Praxis zu überführen und im eigenen Medium weiterzudenken. Ich möchte anregen, zukünftige Forschungsvorhaben im Bereich von Interpretationsforschung/Performance Studiesin der beschriebenen Weise zu konzipieren: als interdisziplinär angelegte Projekte, die zwei verschiedenartigen, doch einander zugewandten Teildisziplinen ein gemeinsames Betätigungsfeld verschaffen, einer künstlerisch informierten Wissenschaft einerseits, einer wissenschaftlich informierten Kunstausübung andererseits. Beide Komponenten solcher Teamarbeit hätten durch wechselseitig aufeinander bezogene, doch autonom geleistete Beiträge die Möglichkeit, im Rahmen ihrer jeweiligen Systemgrenzen zu verbleiben und dadurch dem Gesamtergebnis sowohl in seinen künstlerischen wie in seinen wissenschaftlichen Anteilen höchstes Niveau zu garantieren. In ihrer Gesamtheit hätten sie andererseits Anspruch darauf, (unter anderem) als Verwirklichung der Hybridkonstruktion ‚künstlerische Forschung‘ verstanden zu werden. Hierfür erforderliche institutionelle Infrastrukturen zu schaffen – etwa durch die Einbindung des third cycle künstlerischer Ausbildung in eine übergeordnete interdisziplinäre Struktur – erscheint als lohnende Aufgabe. Die von Projekten wie den oben genannten geleistete Pionierarbeit würde so in zukunftsträchtiger Weise fortgesetzt.
Zum Autor: Kilian Sprau ist Professor für Musiktheorie an der UdK Berlin.
[1] Luhmanns zentrale Publikationen zum Thema sind Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1990, und Die Kunst der Gesellschaft, ebd. 1995. Als äußerst wegsamer Zugang zur Systemtheorie nach Luhmann empfehlenswert: Frank Becker/Elke Reinhard Becker, Systemtheorie. Eine Einführung für die Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2001. Zu Kunst und Wissenschaft aus systemtheoretischer Sicht vgl. auch Kilian Sprau, Liederzyklus als Künstlerdenkmal, München 2016, S. 131–175.
[2] Axel Weidenfeld / Peter Schleuning: „Methoden und Grenzen Historischer Aufführungspraxis“, in: Musik aufführen. Quellen – Fragen – Forschungsperspektiven, hg. von Kai Köpp und Thomas Seedorf, Laaber 2020, S. 42–69, hier S. 46.
[3] Vgl. ebd., S. 47.
[4] Ebd., S. 59.
[5] Vgl. Christofer Jost, „Der ‚performative turn‘ in der Musikforschung. Zwischen Desiderat und (teil)disziplinärem Paradigma“, Musiktheorie 28/4 (2013), S. 291–309. Zur Differenzierung von ‚Interpretation‘, ‚Performance‘ und verwandten Begriffen vgl. Heinz von Loesch, „Vortrag – Reproduktion – Interpretation – Performance: Zur Geschichte der Begriffe“, in: Ästhetik – Ideen (Geschichte der musikalischen Interpretation im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 1), hg. von Thomas Ertelt und Heinz von Loesch, Kassel 2018, S. 12–23.
[6] Als Maßstäbe setzende Projekte im englischen Sprachraum sind CHARM (Research Centre for the History and Analysis of Recorded Music, London 2004–2009) und CMPCP (Research Centre for Musical Performance as Creative Practice, Cambridge 2009–2014) zu nennen.
[7] Die Fragestellung ist aus dem Arbeitsleben des von mir an der Universität der Künste Berlin geleiteten Forschungsprojekts Gleitende Tonhöhen auf klingenden Konsonanten gegriffen (Publikation in Vorbereitung).
[8] Vgl. Tilo Hähnel, „Über die Quantifizierung des Heldentenors. Vibrato, Ornamentik, Glissando, Tempo und Register in akustischen Tonaufnahmen zwischen 1900 und 1930“, in: Musik in Konfrontation und Vermittlung. Beiträge zur Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung 2018 in Osnabrück, hg. von Dietrich Helms, Osnabrück 2020, S. 369–385, hier: S. 380. (Der Beitrag entstammt dem Kontext des Projekts Technologien des Singens.) Zum Begriff „Investigator-Triangulation“ vgl. Uwe Flick, „Triangulation in der qualitativen Forschung“, in: Qualitative Forschung. Ein Handbuch, hg. von Uwe Flick, Ernst von Kardorff und Ines Steinke, Reinbek bei Hamburg 82010, S. 309–318, hier: S. 312.
[9] Als Associate Scientist war ich selbst aktiver Teilnehmer der PETAL-Workshops und unmittelbarer Zeuge der dort praktizierten Arbeitsweise. Zur Publikation der Ergebnisse vgl. u. a. die Sonderausgabe Musikalische Interpretation als Analyse der Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie (in Vorb.).
[10] Vgl. Franziska Martienßen-Lohmann, „Die Ausbildung der menschlichen Stimme“, in: Hohe Schule der Musik. Handbuch der gesamten Musikpraxis, Bd. 3, hg. von Josef Müller-Blattau, Potsdam 1935, Reprint Laaber 1981, S. 76–143, hier S. 81.
[11] Kai Köpp, „Musikalisches Körperwissen. Embodiment als Methode der (historischen) Interpretationsforschung“, dissonance 135 (2016), S. 14–18, https://dissonance.musinfo.ch/upload/pdf/135_14_hb_kk_embodiment.pdf.
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