Im Jahr 2015 sorgte ein Blog für Aufsehen in der akademischen Welt. Eine Gruppe anonym bleibender Studierender veröffentlichte unter dem Titel Münkler-Watch wöchentlich Kommentare zu einer Vorlesung des Politikwissenschaftlers Herfried Münkler. Die meisten Lehrenden an einer Hochschule oder Universität wären über den Aufwand, den die Studierenden betrieben, vermutlich begeistert. Nicht so in diesem Fall, denn man beschränkte sich keineswegs auf eine akademische Nachbereitung, sondern prangerte offensiv Militarismus, Rassismus und Sexismus an, den Münkler in den Augen der Studierenden regelmäßig in seiner Lehrveranstaltung verlauten ließ. So wurden auch die Medien auf den Fall Münkler aufmerksam, der fortan unter besonderer Beobachtung stand. Die Reaktion des etablierten und gut vernetzten Professors ließ nicht lange auf sich warten. Er bezeichnete die Studierenden als “erbärmliche Feiglinge” und vermutete “Trotzkisten” hinter der Aktion. Inzwischen ist Münkler pensioniert – nachhaltig geschadet hat ihm die Auseinandersetzung nicht.
Wir erwähnen den Fall nicht, weil wir ihn inhaltlich ausführlich diskutieren und uns mit den vorgebrachten Sachargumenten auseinandersetzen wollen – uns geht es an dieser Stelle um eine strukturelle Beobachtung. Streit zwischen akademischen Lehrer*innen und Studierenden wird es vermutlich immer geben. Jedoch drang und dringt er selten über die Mauern einer Universität hinaus. Klassische Formate wie Flugblätter und Plakate dürften innerhalb einer Hochschule echter Zündstoff gewesen sein – ihre Reichweite war aber begrenzt. Das Medium des Blogs bot dagegen Studierenden im Grundstudium die Möglichkeit, sich öffentlichkeitswirksam mit einer der mächtigsten Persönlichkeiten im Fach Politikwissenschaft auseinanderzusetzen. Das gefiel nicht Jeder und Jedem.
Im Februar 2021 formte sich das sogenannte “Netzwerk Wissenschaftsfreiheit”, ein “Zusammenschluss von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich für ein freiheitliches Wissenschaftsklima einsetzen“. Darunter versteht das Netzwerk (wieder Zitat) „eine plurale von Sachargumenten und gegenseitigem Respekt geprägte Debattenkultur und ein institutionelles Umfeld, in dem niemand aus Furcht vor sozialen und beruflichen Kosten Forschungsfragen und Debattenbeiträge meidet”. Wissenschaftler*in ist nach Definition des Netzwerks offenbar nur, wer mindestens promoviert ist. In der Liste der 584 Unterzeichner*innen findet sich im August 2021 nur eine nicht-promovierte Person. In der Auflistung der Mitglieder des Netzwerks sind übrigens auch die Namen einiger Musikwissenschaftler*innen zu finden. Dem Manifest des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit – dessen Webpräsenz übrigens kein Blog, sondern eine Website im Stil der 1990er-Jahre ist – ist folgende Grundannahme vorangestellt:
“Wir beobachten, dass die verfassungsrechtlich verbürgte Freiheit von Forschung und Lehre zunehmend unter moralischen und politischen Vorbehalt gestellt werden soll. Wir müssen vermehrt Versuche zur Kenntnis nehmen, der Freiheit von Forschung und Lehre wissenschaftsfremde Grenzen schon im Vorfeld der Schranken des geltenden Rechts zu setzen. Einzelne beanspruchen vor dem Hintergrund ihrer Weltanschauung und ihrer politischen Ziele, festlegen zu können, welche Fragestellungen, Themen und Argumente verwerflich sind. Damit wird der Versuch unternommen, Forschung und Lehre weltanschaulich zu normieren und politisch zu instrumentalisieren. Wer nicht mitspielt, muss damit rechnen, diskreditiert zu werden. Auf diese Weise wird ein Konformitätsdruck erzeugt, der immer häufiger dazu führt, wissenschaftliche Debatten im Keim zu ersticken.”
Wir sehen davon ab, die Richtigkeit oder Plausibilität der Beobachtungen an dieser Stelle zu diskutieren. Stattdessen wollen wir drei Dinge festhalten. Erstens existiert offenbar das Gefühl, dass sich der Wissenschaftsdiskurs in den vergangenen Jahren verschoben hat. Zweitens fühlen sich davon offenbar vor allem etablierte Wissenschaftler*innen betroffen (zumindest, wenn man die Mitgliederliste des Netzwerks als Referenzpunkt nimmt) und zum Dritten ist, wenn man der “Dokumentation” auf der Website des Netzwerks glauben darf, auch die Aktion der “erbärmlichen Feiglinge” von “Münkler-Watch” ein Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit.
Von welcher Form von Wissenschaftsfreiheit ist hier eigentlich die Rede? Wir würden argumentieren, dass sich das Netzwerk dem Schutz der Freiheit der traditionellen Entscheidungsträger*innen des Wissenschaftssystems verschrieben hat, die unbehelligt von etwaiger Kritik anderen Akteur*innen weiterhin ihrer Gatekeeper-Funktion nachkommen wollen. Man muss nicht Foucault bemühen, um die akademischen Wissensproduktion als komplexes Netzwerk von Machtverhältnissen zu beschreiben. Alltägliche Entscheidungen wie, wer ein Promotionsstudium beginnen darf, wer im Rahmen von wichtigen Konferenzen präsentieren darf, wer in einer renommierten Reihe oder in einem wichtigen Journal veröffentlichen darf, welche Forschungsprojekte gefördert werden, werden nur selten aus der Community heraus, sondern noch immer von einem kleinen Kreis etablierter Wissenschaftler*innen getroffen. Nicht unbedingt die Produktion, aber die Sichtbarmachung von Texten war im Wissenschaftsbetrieb traditionell streng hierarchisch organisiert. Wir sagen “war”, weil diese Zeit schlicht vorbei ist. In der digitalen Welt kann sich jede und jeder äußern und ihre oder seine Texte über verschiedene Netzwerke verbreiten. Debatten in Facebookgruppen, auf Twitter, auf E-Mail-Listen und in Blogs entziehen sich weitgehend der “Kontrolle” traditioneller Gatekeeper. Anders als im Reviewprozess einer Publikationsreihe ist eine Professorin oder ein Professor im World Wide Web gezwungen, sich öffentlich mit mehr oder weniger sachlich vorgebrachten Argumenten und den kommunikativen Logiken der jeweiligen Medien auseinanderzusetzen.
Was hat das mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Bibliotheken zu tun? Auch im Aufgabenbereich von Bibliotheken spielen diese Machtverhältnisse eine Rolle: Für die Frage, welche Publikationen archiviert und langfristig verfügbar gehalten werden, nehmen Gedächtnisinstitutionen – unter den Bedingungen digitalen Publizierens mehr als je zuvor – zunächst einmal jene Gatekeeping-Funktion ein – inkl. aller Probleme und Verantwortungen. Ob und wie Bibliotheken auf eine sich rasch verändernde wissenschaftliche Debattenkultur reagieren wollen, oder ob sie diese sogar aktiv mitgestalten wollen, ist aus unserer Sicht eine grundlegende Zukunftsfrage, die die Funktion der Bibliotheken in der Gesellschaft nachhaltig beeinflussen wird. Es reicht nicht mehr, die etablierten statischen Textformen in ihrer analogen und digitalen Form zu erfassen, sondern es gilt, Lösungen für eine dynamische geisteswissenschaftliche Wissenschaftskultur zu begleiten.
Blogs zwischen Infrastruktur und Inhalt
Am Beispiel eines Blogs lassen sich einige der Herausforderungen diskutieren, vor denen Wissenschaftler*innen und Bibliothekar*innen im Angesicht der noch immer voranschreitenden Digitalisierung der Lebens- und damit auch der Forschungswelt gemeinsam stehen. Dies zeigen die Erfahrungen mit dem seit 2018 von uns betreuten Blog musiconn.kontrovers.
musiconn.kontrovers ist Teil des Fachinformationsdienstes Musikwissenschaft. Er wird damit im Rahmen eines größeren (von der DFG finanzierten) Programms gepflegt und betreut und beruht auf eben einer solchen Zusammenarbeit zwischen Institution und Individuen. Die gegebenen Umstände – d. h. die Förderung einer Forschungsinfrastruktur – erfordern von allen Beteiligten die Reflexion über Zuständigkeiten: Denn die klassische Aufteilung in Infrastruktur-Aufgaben, die in Gedächtnisinstitutionen erbracht werden, und die Produktion von Inhalten durch Forscher*innen gerät unter den Bedingungen des Digitalen ins Wanken. (Als dritter relevanter Player wären womöglich die Verlage zu benennen, die neben Satz und Lektorat auch Bereiche wie Marketing und Verbreitung übernehmen.) Gerade im Medium des Blogs bedingen sich die Herstellung eines Rahmens, die Befüllung dieses Rahmens, aber auch die Verbreitung auf enge Weise gegenseitig. Anders formuliert: Es ist kaum möglich, alle Features, die der Blog bietet, im Voraus freizuschalten. “Zu groß” ist die Offenheit, mit der wir als Redaktion an das immer noch vergleichsweise junge Medium herangehen müssen; zu zaghaft sind aber auch die Stimmen aus der erweiterten Fachcommunity, was Desiderate in puncto digitale Infrastruktur angeht. Deshalb wachsen Technik und Struktur mit den eingeworbenen Inhalten.
An diesen Stellen werden die durchaus unterschiedlichen Interessen erfahrbar, die Wissenschaftler*innen und Bibliotheken mit Publikationsmedien verbinden: Blogs sind eine dynamische Technologie. Sie erlauben die unmittelbare Auseinandersetzung mit aktuellen Themen und Debatten und können Wissenschaft gewissermaßen in Echtzeit abbilden und begleiten; sie erlauben aber ebenso die Reaktion auf technische Neuerungen, d. h. sie nehmen an der Entwicklung neuer Webtechnologien teil und stehen einer wachsenden Anzahl medialer Präsentationsformen offen. Der klassische Blogtext ist damit nur eine unter vielen Möglichkeiten, Inhalte zu präsentieren. Freilich sind für Einbindung von YouTube-Videos oder von selbstgehosteten audiovisuellen Daten, aber auch von Social-Media-Inhalten Schnittstellen, aber auch rechtliche Absicherung nötig. Die (meist privatwirtschaftlichen) Plattformen, auf denen Musik stattfindet und die also für musikwissenschaftliche Betrachtung als Gegenstände relevant sind, wandeln sich kontinuierlich und sind mit unterschiedlichen Schranken verbunden. Nicht alles, was digital erreichbar ist, ist auch gleichermaßen verfügbar und auf Blogs verwendbar. Man denke neben YouTube, TikTok, Twitter und Instagram an Modelle wie Spotify.
Diese Dynamik ist für Bibliotheken äußerst anspruchsvoll, sie kollidiert nicht selten mit den Anforderungen und Standards, die Gedächtnisinstitutionen an ihr Material, seine Verarbeitung und seine Aufbewahrung stellen müssen. Darunter fallen die technische und rechtliche Sicherheit – etwa von Plugins, die die Benutzeroberflächen moderner Blogsysteme prägen; darunter fällt ebenso die Frage der Langzeitverfügbarkeit, mit der dann wiederum die verwendeten Datenformate zusammenhängen. Nicht alle Möglichkeiten, die aktuelle Webtechnologien hier bieten, sind vereinbar mit den bibliothekarischen Anforderungen. Die Geschwindigkeit ihrer Entwicklungen trifft zudem auf unterfinanzierte IT-Abteilungen, die oftmals mit dem digitalen Tagesgeschäft ausgelastet sind und keine Chance haben, auf der Höhe der technischen Entwicklungen zu bleiben.
Nebenbei sei nicht verschwiegen, dass diese Dynamik auch auf genuin inhaltlicher Seite eine Herausforderung darstellt: Gegenwartsbeobachtung, aber auch die Nutzung der stets sich wandelnden kommunikativen Möglichkeiten des Internets sind auch für Musikwissenschaftler*innen eine Aufgabe, die nicht selbstverständlich in die alltäglichen Arbeitsprozesse integrierbar erscheint. Das Verhältnis schließlich, in dem Musikwissenschaftler*innen zu klingender Musik, also zur “drastischen” Seite ihres Gegenstandes stehen, wäre ein ganz eigenes Thema. Nur so viel: Hörbeispiele im Rahmen von Texten sind in digitalen Publikationen jeglicher Form nach wie vor eine Seltenheit. Der Medienwandel nimmt Zeit in Anspruch: Wie zu Beginn des Druckzeitalters zunächst Handschriften in ein anderes Medium übertragen wurden, so übertragen Wissenschaftler*innen ihre am Druck geübten Praktiken ins Digitale, ohne dessen Möglichkeiten auszuschöpfen.
Gerade aus diesem Grund sind Bibliotheken durchaus geeignete Orte, um Blogs zu hosten und zu pflegen, das heißt eine Infrastruktur zur Verfügung zu stellen, die gemeinsam mit Wissenschaftler*innen weiterentwickelt werden kann. In mehrerlei Hinsicht können die auf diese Weise entstehenden Angebote den freien Blogplattformen überlegen sein. (Immerhin erlauben Komplettpakete wie etwa WordPress die Publikation von Texten im Grunde ohne Zugangsschranken.) Und auch gegenüber solchen Plattformen, die stärker auf wissenschaftliche Belange hin ausgerichtete Blogs ermöglichen – wie etwa Hypotheses –, sind Vorteile auszumachen, auch wenn Bibliotheken mit diesen Plattformen einige Eigenschaften teilen. Dazu zählen die öffentliche Trägerschaft und die Möglichkeit, Inhalte zu speichern und zu präsentieren, ohne den Verwertungslogiken privatwirtschaftlicher Angebote unterworfen zu sein. Dies betrifft auch Fragen des Datenschutzes. Hinsichtlich der bibliothekarisch-bibliographischen Zuverlässigkeit stehen Blogs, die von Bibliotheken gehostet werden, denen im Hypotheses-Kosmos relativ nahe: Die Vergabe von persistenten Links sowie von ISSNs, die dann auch mit erweiterten Möglichkeiten der Katalogisierung und der Webarchivierung einhergeht, ist in beiden Umgebungen vorgesehen, wobei Bibliotheken sicher größere Freiheiten im Umgang etwa mit beitragsbezogenen DOIs erlauben. Diese Aspekte sind nicht unwichtig für die Akzeptanz von Blogs in der Fachöffentlichkeit. Sie spielen womöglich gerade für diejenigen Wissenschaftler*innen eine besondere Rolle, die üblicherweise nicht unter dem Label des »Nachwuchses« oder der »digital natives« subsumiert werden. Mit den aus dem Print-Paradigma übertragenen Erfassungs- und Erhaltungslogiken erscheint es leichter möglich, den Berührungsängsten zu begegnen, die die vermeintliche Flüchtigkeit des Mediums erzeugt.
Dies berührt wiederum eine zentrale Frage, die sich Blog-Autor*innen und Redaktionen, aber auch die hostenden Institutionen stellen müssen: Welche Text- oder Sprechformen sind es eigentlich, die im Blog erfasst und in eine allgemein zugängliche Leseform übertragen werden? Immerhin bewegen wir uns online, das heißt im Bereich des Hypertextes, der nicht nur dynamisch anpassbar ist, sondern der genuin auf die Verknüpfung von Daten und Inhalten ausgelegt ist.
Die bisher auf musiconn.kontrovers publizierten Texte deuten darauf hin, dass Autor*innen sich primär in der Tradition des Zeitschriftenartikels sehen: Sie begreifen ihr Thema relativ eng, setzen Fußnoten, argumentieren tendenziell historisch, halten sich meist mit eigenen Meinungen oder gar mit Zuspitzungen, aber auch mit tagesaktuellen Beobachtungen zurück. Die Präsentation von als vorläufig markierten Standpunkten oder Zwischenergebnissen von Forschung findet eher nicht statt. Auch medial halten sich die Autor*innen bislang weitgehend an Bewährtes: Nur selten werden etwa audiovisuelle Medien so eingebunden, wie es der Web-Kontext erlauben würde. Zugleich, dies müssen wir klar so benennen, stehen Beiträge für unseren Blog in der Prioritätenliste der Autor*innen erkennbar hinter anderen, etablierteren Publikationsorganen zurück. Mit der Reputation von Zeitschriftenartikeln können Blogartikel offenbar (noch?) nicht konkurrieren.
Mit dieser Produktions- korrespondiert eine bestimmte Rezeptionshaltung: Texte werden, wie unsere Zugriffszahlen zeigen, zwar gelesen. Eine fortgesetzte Nutzung der Interaktionsmöglichkeiten, die ein Blog oder das digitale Medium insgesamt bietet, findet aber nur ganz vereinzelt statt. Weder Diskussionen über die Kommentarfunktion noch über die Option, frei verfügbare Texte in sozialen Medien zu teilen und zu besprechen, spielen bislang eine größere Rolle. Mangelnde Diskussionswürdigkeit oder fehlende Auseinandersetzung sind allerdings eher nicht der Grund für diese Zurückhaltung: Im persönlichen Gespräch werden wir immer wieder mit Meinungen zu kürzlich erschienenen Texten konfrontiert.
Wir befinden uns mit dem Blog also offenbar – zumindest im Moment – in einer eigentümlichen Ambivalenz: Im Grunde erlaubt das Medium Reflexe von Mündlichkeit; es wäre dazu geeignet, Diskussionen, wie sie sonst im Anschluss an Tagungsvorträge, in Kolloquien usw. stattfinden, über Grenzen aller Art hinweg zu führen. Diese in eine schriftliche – und damit stärker auf Dauer gestellte – Form zu übertragen, scheuen viele Kolleg*innen jedoch. Zugleich gelten Blogs nach wie vor als zu flüchtig, zu wenig an traditionelle Reputationsmechanismen angeschlossen, um wirklich breite Aufmerksamkeit und Akzeptanz zu erfahren.
Fazit
Ob und in welcher Weise Bibliotheken und Forscher*innen beim Thema Bloggen und darüber hinaus zusammenarbeiten können und sollten, hängt also von zwei Faktoren ab: Gedächtnisinstitutionen stehen gestern wie heute vor der Entscheidung, welches Wissen sie speichern und damit für die Nachwelt sichtbar machen wollen. Die Erosion traditioneller Sortierungsmechaniken, die sich an Reputation orientieren, und die Dynamisierung des Publikationswesens durch die digitalen Medien verkomplizieren in Kombination mit der immer schneller wachsenden Wissensproduktion bibliothekarisches Handeln sicherlich beträchtlich. Das Beispiel des Blogs zeigt, dass es für Bibliothekar*innen und Wissenschaftler*innen gleichermaßen schwieriger wird, mit den Entwicklungen Schritt zu halten und sie ggfs. sogar mitzugestalten. Das gelingen zu lassen, ist sicherlich eine Herausforderung für Wissenschaft und Bibliotheken, die nur im Dialog gelöst werden kann. Teil dieses Dialogs wäre unter anderem die Frage, als welche Textform wir Blogs betrachten.
Möglicherweise hilft es, weitere Konzepte heranzuziehen, die uns dabei helfen können, Blogs als Denkräume zu begreifen. Auf der Hand liegen Vergleiche mit interaktiven – oder auch nur freieren – Sparten etablierter Printmedien wie Zeitungen. Zu denken wäre an den Leserbrief, das Meinungsstück, aber auch die Glosse. Natürlich handelt es sich hier nicht um Textformen, die im wissenschaftlichen Diskurs im engeren Sinne eine Rolle spielen. Doch entstammen bestimmte wirkmächtige Debatten – wie etwa der sogenannte “Historikerstreit” – gerade diesem medialen Echoraum. Er führt uns zur (gewiss nicht unproblematischen) Figur des “public intellectual” – wobei wir uns fragen können, ob die Musikwissenschaft in jüngerer Zeit solche Figuren hervorgebracht hat. Sie führt damit auch zurück zur Frage der Gatekeeper: Anders als im Feuilleton der FAZ – dem favorisierten Ausdrucksmedium der deutschsprachigen akademischen Elite – treten in Blogs nur deren Redaktion (unterstützt durch Spamfilter) als Wächter des Zugangs auf. Bislang wurde unsere Liberalität und Neutralität nicht allzu sehr auf die Probe gestellt …
Ebenso wäre an eine weitere Gedächtnisinstitution als Referenzpunkt zu denken: Stärker als Bibliotheken sind Archive darauf ausgerichtet, Prozessualität zu speichern – solche Dokumente also, die nicht als abgeschlossene Texte vorliegen, sondern die einen kommunikativen Verlauf und seine Zwischenergebnisse verfügbar machen. Blogs im Sinne von (lebendigen) Archiven zu begreifen und sie auch als solche zu kommunizieren, könnte helfen, der aus dem Print-Paradigma übernommenen Vorstellung textlicher Abgeschlossenheit den Druck zu nehmen.
Angesichts der oben geschilderten Herausforderungen in Sachen Dynamik wäre auch das Labor als Denkfigur in Betracht zu ziehen. Bislang tendieren Institutionen im deutschen Sprachraum dazu, Fragen der Digitalisierung in Zentren zu strukturieren, die von hausinternen Zusammenschlüssen bis hin zu nationalen oder auch internationalen Großverbünden reichen. Wissenschaftliche Blogs profitieren fraglos von derartigen Einrichtungen. Sie wären aber vielleicht in Umgebungen leichter – und dem Medium angemessener – zu betreiben, die den Fokus stärker auf den Aspekt der Experimentalität legen. Was eine Publikationsform wie der Blog leisten kann, lässt sich – so die Grundannahme dieses Konzepts – umso schwerer erkennen oder herausfinden, je unveränderter wir die Anforderungen traditioneller Medien auf diese digitale Form übertragen. Freiräume, wie sie unter dem Begriff des “Laboratoriums” gedacht werden können, könnten den Blog dagegen als echte, eigene Form der Wissenschaftskommunikation nach innen (in die Fachcommunity) und nach außen (in verschiedene Öffentlichkeiten) freischalten.
[Dieser Text wurde am 22.09.21 als Vortrag bei der Jahrestagung der IAML Deutschland gehalten.]