„Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt“ – Rezensionen als Speicherorte historischen Wertens, Überschreibens und Verstehens
Wenn der Kunstrichter zu dem dramatischen Dichter sagt: anstatt daß du den Knoten deiner Fabel so geschürzet hast, hättest du ihn so schürzen sollen; anstatt daß du ihn so lösest, würdest du ihn besser so gelöset haben: so hat sich der Kunstrichter verleiten lassen.
Denn niemand könnte es mit Recht von ihm verlangen, daß er sich so weit äußerte. Er hat seinem Amte ein Genüge geleistet, wenn er bloß sagt: dein Knoten taugt nichts, deine Verwicklung ist schlecht, und das aus dem und dem Grunde. Wie sie besser sein könnte, mag der Dichter zusehen.
Gotthold Ephraim Lessing[1]
In Lessings Argumentation scheinen die Aufgaben klar verteilt: Dichtung und Kritik gehören verschiedenen Metiers an, Grenzüberschreitungen sind Fehler. Lessings Kritiken, wie auch dem zitierten Text selbst, ist die Grenzüberschreitung eingeschrieben. Anstelle einer punktuellen „Verbesserung“ ist es aber ein Überschreiben: Die kunstvolle Kritik lässt ihre Wirksamkeit spüren, indem sie literarisch einen Standard anspielt, der auch von dem dann in der Regel verrissenen vorliegenden Werk hätte erreicht werden können oder müssen. Soviel „Kunstrichter“ lauert in der Ikonologie des Rezensionenschreibens: Auch würdigende oder panegyrische Kritiken heben sich meist einen Urteilsrest auf, eine kleine Dreingabe, und geht es darum, eine Weitsicht des rezensierten Buchs aufzudecken, eine Anschlussmöglichkeit, die der Autorin oder dem Autor selbst möglicherweise zu wenig aufgefallen ist.
Das Rezensieren von Sachtexten oder – noch verschachtelter – das Rezensieren von kritischen Sachtexten über Kunst schürt die Verbesserungslust in weit höherem Maße. Warum sich nicht verleiten lassen, wenn es den Rezensierenden nicht weniger gegeben wäre, diesen oder einen ähnlichen Sachtext zu schreiben? Was spricht gegen eine direkte Richtigstellung argumentativer Konzepte, sollten sie aus der Perspektive der Rezension der behandelten Kunst nicht angemessen sein?
Nicht erst seit Alfred Kerr ist klar, dass die Grenze zwischen Kritik und Kunst dynamisch ist: Catull ist in der Lage, Cicero ein höhnisches Lobgedicht zu widmen, in dem er mit unfassbarer Schnelligkeit und auf engstem Raum den in der Gattung des Epigramms völlig unpassenden, peniblen und klobigen Stil des nur scheinbar Gelobten karikiert.
Disertissime Romuli nepotum,
quot sunt quotque fuere, Marce Tulli,
quotque post aliis erunt in annis,
gratias tibi maximas Catullus
agit pessimus omnium poeta,
tanto pessimus omnium poeta,
quanto tu optimus omnium patronus.
Valerius Catullus, carmen 49
Du, der Romulusenkel wohlberedtster;
Marcus Tullius so da sind und waren
und sein werden hernach in andern Jahren:
allerheißesten Dank sagt dir Catullus,
er, der schlechteste aller der Poeten,
so der schlechteste aller der Poeten,
wie du bester bist all der Advokaten!
Übersetzung von Otto Weinreich (11974)
Im Medium metrisch gebundener Sprache verbleibend – auch Ciceros Prosa ist metrisch gebunden – lässt Catull die einander widersprechenden Standards aufeinanderprallen; Ciceros Idiom wird erkannt in der Karikatur und vermutlich von denjenigen, die das Catull-Gedicht kennen, eine Zeitlang nicht mehr ohne die beigefügte Verformung gelesen.
Einen vergleichbaren Modus der Einfühlung (divinatio) lässt die intellektuelle Freundschaft zwischen Anton Reiser und seinem ironischen Alter-Ego Philipp Reiser in Karl Philipp Moritz’ Roman sich abspielen:
Aber sein Freund war ein strenger Richter, der nicht leicht einen matten Gedanken, einen gesuchten Reim, oder ein Flickwort ungeahndet ließ. – Besonders machte er sich über eine Stelle in Anton Reisers Gedicht lustig, die hieß:
Karl Philipp Moritz[2]
So wechselt Lust und Schmerz im ganzen Leben ab,
Und selbst das Leben sinkt ins stille kühle Grab –
Philipp Reiser konnte nicht aufhören, über diese Stelle, die er in einem komischen Tone deklamierte, seinen Witz spielen zu lassen. – Er nannte seinen Freund seinen lieben Hans Sachs – und machte ihm mehr dergleichen Lobsprüche, die eben nicht allzu aufmunternd waren. – Indes ließ er ihn doch nicht ganz sinken – sondern hob einige erträgliche Stellen aus dem Gedicht heraus, denen er denn seinen Beifall nicht ganz versagte. –
Durch eine solche wechselseitige Mitteilung und fruchtbare Kritik, wurde nun das Band zwischen diesen beiden Freunden immer fester geknüpft, und Anton Reisers Streben, er mochte Verse oder Prosa niederschreiben, ging unablässig dahin, sich den Beifall seines Freundes zu erwerben.
Die raumgreifende poetologische Passage des Romans manifestiert die Probleme der Kritik mit dem „Geschmack“ oder dem „goût“, der – im Gegensatz zu Regeln, die auch ein „viereckigter Baurejunge“[3] lernen kann (Heinichen) – eine komplexe, und ganz entgegen der Schnelldeutung des Sprichwortes zumindest im 18. Jahrhundert eine extrem streitbare Kategorie ist, die als Kernkompetenz von Kritik nun gerade auch die Rezensionen von musikalischer Fachliteratur betrifft: Mattheson, Marpurg, Kirnberger, Scheibe – es ist bei einem kursorischen Blick auf heutige Fachliteratur gelegentlich zweifelhaft, woher wir unser historisches Wissen eher beziehen, aus den theoretischen Texten oder aus ihren Kritiken. Gerade die Fragen zu Kirnbergers Stimmungstheorien, die an ihren vielfachen Orten in Kirnbergers Texten mit Marpurgs ausgiebigen und quasi simultan, manchmal sogar vor der offiziellen Drucklegung von Kirnbergers Text erscheinenden Kritiken in vehementer Umarmung ineinander verkeilt sind, zeigen die Macht der Kritik. Etwas scheinbar so klar und „objektiv“ naturwissenschaftlich Abgesichertes wie die Qualität einer musikalischen Temperatur kann durch Kritik ein implizites und langanhaltendes Werturteil empfangen, welches sicher nicht die Länge der Saiten oder die Regeln für Tonverhältnisse direkt beeinflusst, aber den „goût“, diese als adäquat wertzuschätzen.
Was hat diese Blütezeit der musikalischen Kritik, in der Schreiben und Theoretisieren über Musik vor allem in Form der Kritik stattfanden, mit dem Abfassen von Rezensionen in der aktuellen Musikwissenschaft zu tun? Was haben diese historischen Situationen mit einem Blog auf musiconn.de zu tun?
Um den Bezugspunkten näher zu kommen, sei an eine sehr berühmte Rezension, nämlich an Richard Taruskins 1993 erschienenes Review von Kevin Korsyns Essay „Towards a New Poetics of Musical Influence“ von 1991 erinnert. Angesichts der relativen chronologischen Nähe zu dieser Publikation stammen die musikwissenschaftlichen Standards aus einer erstaunlich fernen Zeit: 1993 war ein privater Internet-Anschluss alles andere als selbstverständlich, Handys waren mobile Telefone und soziale Netzwerke spielten keine große Rolle.
Korsyns Essay behandelt Harold Blooms Konzept der „anxiety of influence“: Kunstgeschichtliche Traditionen transportieren sich durch agonale Überschreibung, durch ödipale Kämpfe zwischen starken Gegnern (und es ist eine gendersensible Entscheidung, es hier beim generischen Maskulinum zu belassen). In dem von Korsyn aus der Literaturwissenschaft übernommenen Ansatz ist Kunst Kritik, die Informations- und Kommunikationskanäle sind Zweikämpfe, ein Ringen wie zwischen Jakob und dem Engel. Bemerkenswert ist nun, dass Taruskin in seinem Review Blooms Konzept der „anxiety of influence“ nicht nur beschreibt, sondern in seiner Rezension gleichsam vollzieht: Es dauert mehr als drei Seiten, bis der Name „Korsyn“ überhaupt fällt. Harold Bloom ist der „starke Gegner“, mit dem die Auseinandersetzung sich lohnt, Korsyn wird vielmehr wie ein Überbringer der Nachricht behandelt, wobei der Moment der wertschätzenden Intimität, bei Karl Philipp Moritz der wichtigste Moment kritischer Praxis, sich in erster Linie darin äußert, dass Taruskin dem Essay überhaupt so viel Energie widmet. Tatsächlich bilden Kevin Korsyns Essay und Richard Taruskins Review einen intensiven Dialog ab: In dessen Spannungsfeld kann so etwas wie die Problematik, intertextuelle Ansätze mit historisch bedingten Werturteilen in der musikalischen Analyse zu verbinden, wirkungsvoll nachvollzogen werden, und das in manchen Teilen, weil Taruskin Korsyns eigene Position überfährt und direkt auf Bloom losgeht, in anderen Teilen, obwohl er so verfährt. Was plastisch aus dem Review hervorgeht, ist die Besonderheit eines wissenschaftlichen oder künstlerischen Diskurses, der allein auf der zum Zweikampf oder Zwiegespräch verengten Auseinandersetzung zweier Subjekte beruht. Schon 1993 ist das – vor dem Hintergrund der post-strukturalistischen Argumentation der New Musicology – nicht mehr selbstverständlich.
Dass eine derartige Überwindungsästhetik in musikalischer Analyse und Kritik bestimmte Machtverteilungen verfestigt, bestimmte Ergebnisse (wie z. B. „starke Gegner“) privilegiert, andere hingegen herausfiltert und verschweigt, ist z. B. von Susan McClary und Fred Everett Maus einschlägig herausgearbeitet worden,[4] so dass ein unbewusstes Setzen oder Bestätigen solcher Standards hinter den Stand aktueller, im besten Falle post-kolonialer Diskussionen zurückfällt: Reviews und Rezensionen erscheinen in Blogs, ein Antworten, auch in ganzen Gruppen von Kommentaren, ist sofort möglich, ein Überschreiben, Kommentieren und Verformen in Gestalt von Memes diktieren das Tempo und die Streuung, aber auch die Intersubjektivität der Informationsflüsse. Der einer Idee kongruenter Eliten verpflichtete Gedanke der starken oder würdigen Gegner*innen im kritischen Schlagabtausch bildet nicht mehr dasselbe Koordinatensystem aus zu dem, was wir als Wirklichkeit oder „reale Gegenwart“[5] im wissenschaftlichen Diskurs erfahren; dennoch sind diese historischen Positionen nicht verloren, sondern führen ein Nachleben in der Sprache der Kritik, im Ausleben des Kunst-Richtens. Auch die nachlässigste oder konzilianteste Rezension enthält Spuren dieser Rhetorik, was dann besonders fehlgeht, wenn das Unterschneiden dessen, was verstanden werden kann, nicht auf eine übergroße hermeneutische Anstrengung, sondern auf echte Unterspannung zurückzuführen ist. Die Pluralität möglicher Erwartungshorizonte, der Variantenreichtum dessen, was vom Schreiben über Musik zu erwarten ist, hebt die empfundene Präzision und Stimmigkeit in Momenten des Verstehens nicht auf, und Letzteres ist nach wie vor das Geschenk kritischen Schreibens und Denkens.
Zur Autorin: Ariane Jeßulat ist Professorin für Musiktheorie an der UdK Berlin und war während ihrer Zeit als Mitherausgeberin der Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie in den Jahren 2018 bis 2021 verantwortlich für den Rezensionsteil.
[1] Gotthold Ephraim Lessing, Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt, in: ders.: Die Aber kosten Überlegung – Dichtungen. Kritiken. Briefe, Berlin 1981, S. 27–30, hier 28.
[2] Karl Philipp Moritz, Anton Reiser. Ein psychologischer Roman [2785], Stuttgart 1971, S. 283–284.
[3] Johann David Heinichen, Der General-Bass in der Composition, Dresden 1728, S. 22.
[4] Susan McClary, Feminine Endings: Music, Gender, and Sexuality, Minnesota 1991; Fred Everett Maus, Masculine Discourse in Music Theory. Perspectives of New Music 31/2 (1993), 264–293.
[5] George Steiner, Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt?, München 1990.
Literatur
Harold Bloom, Einfluss-Angst. Eine Theorie der Dichtung, aus dem amerikanischen Englisch von Angelika Schweikhart, Frankfurt a. M. 1995
Gaius Valerius Catullus, Sämtliche Gedichte. Lateinisch und deutsch, hrsg. und übersetzt von Otto Weinreich, München 1974.
Kevin Korsyn, Towards a New Poetics of Musical Influence, in: Music Analysis 10/1-2 (1991), 2–71.
Richard Taruskin, „Review“ von Kevin Korsyn, Towards a New Poetics of Musical Influence, in: JAMS 46/1 (1993), 114–138.
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