Musik­wissen­schaft­liche Rezensionen. Ein Debatten­anstoß

Honoré Daumier, La promenade du Critique influent, Lithographie, National Gallery of Art Washington (public domain).

Rezensionen sind aus dem Wissenschaftsbetrieb nicht wegzudenken. Sie waren fester Bestandteil des Musikschrifttums, noch bevor sich die Musikwissenschaft im universitären Fächerkanon etabliert hatte, und sind bis heute ein Grundpfeiler der musikwissenschaftlichen Debattenkultur. Wenn (oder falls) die Monographie, wie noch häufig postuliert wird, im Fach nach wie vor den “Goldstandard” wissenschaftlichen Arbeitens darstellt, dann darf die Rezension als seine Waage gelten. Sie erlaubt und erleichtert die Verbreitung von Thesen, die in Buchform nur zögerlich oder nur ausschnittsweise zur Kenntnis genommen würden. Dabei sind Rezensionen das Medium der Debatte schlechthin. Sie verkörpern die kritische Auseinandersetzung mit Erkenntnissen und reflektieren Forschungsstände; sie kondensieren so bestenfalls Wissen – womöglich gerade dann, wenn sie der Herausforderung gerecht werden müssen, Thesen “deutlicher herauszustellen, als der Verfasser selbst es tut” (Jochen Hörisch in seiner Besprechung von Oliver Jahraus’ Habilitationsschrift in: Arbitrium 24 (2007), H. 2). Rezensionen sorgen für Dynamik.

In einer Zeit, in der die Monographie keineswegs mehr unangefochten an der Spitze geisteswissenschatlicher Publikationskulturen steht, werden selbstredend auch Sammelbände (die dann eine Herausforderung ganz eigener Art sind), analoge und digitale Editionen, aber auch Online-Angebote wie Datenbanken zum Gegenstand von Rezensionen. Dabei wird keineswegs nur noch im Besprechungsteil etablierter Zeitschriften rezensiert, sondern auch auf spezialisierten Websites. Das Feld der Rezensierenden diversifiziert sich zunehmend und beschränkt sich nicht mehr nur auf Professor*innen, sondern wird auch von Nachwuchswissenschafler*innen und Autor*innen jenseits des Wissenschaftsbetriebs geprägt.

Rezensionen sind Kontroverse. So ist es nur folgerichtig, sie an dieser Stelle im Rahmen eines Themenschwerpunkts zu diskutieren. Dabei kommen uns aktuelle Entwicklungen entgegen, die ihrerseits eine Dynamik andeuten: Vielleicht nicht zufällig entstanden etwa zeitgleich in unterschiedlichen musikwissenschaftlichen Kontexten, aber auch in anderen Fächern Vorhaben, Rezensionen als Genre zu reflektieren und an die Anforderungen aktueller Wissenschaftskulturen anzupassen. So stieß die zentrale Plattform der Geschichtswissenschaft H-Soz-Kult im Sommer 2021 ein Forum zu “Buchrezensionen” an, in dem Anforderungen und Erwartungen an Rezensionen diskutiert wurden. Zum selben Zeitpunkt entstand in der Redaktion von musiconn.kontrovers die Idee, Rezensionen zum Gegenstand zu machen – einerseits mit der Eröffnung eines eigenen Rezensionsbereichs, der dann nicht nur Neuerscheinungen, sondern auch “klassische Texte” des Fachs umfassen soll; andererseits mit Beiträgen, die über das Wesen der musikwissenschaftlichen Rezensionen nachdenken. In einem ersten Schritt konnte Ariane Jeßulat, die Zuständige für den Rezensionsteil der Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie, für einen Beitrag gewonnen werden. Dieses Vorhaben traf sich mit Entwicklungen in der Redaktion der Musikforschung: Der in Zukunft für deren Rezensionsteil zuständige Wolfgang Fuhrmann schlug grundlegende Änderungen mit Blick auf Form und Ort der Besprechungen vor und regte an, die Reform durch eine öffentliche Diskussion zu begleiten.

Diese Entwicklungen sind Grund genug, der Rezension einen Themenschwerpunkt zu widmen, der diese Debatten für die Musikwissenschaft bündelt und weiterführt. Dabei sollen Kolleg*innen mit unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungshorizonten zu Wort kommen, um grundlegenden, aber auch spezifischen Aspekten nachzugehen. Den Autor*innen wurden folgende Fragen (oder Teile davon) als Anregungen gestellt:

  • Welche Funktion erfüllen Rezensionen?
  • Welche Anforderungen müssen sie erfüllen?
  • Welche Rolle spielen sie in der Fachdiskussion?
  • Welchen Logiken folgen die Texte?
  • Wie werden Rezensent*innen ausgewählt? Was sagt diese Auswahl? Welche Konsequenzen hat sie?
  • Wie haben sich Rezensionen in der jüngeren Vergangenheit verändert?
  • Welche Herausforderungen stellt das Rezensionswesen in der Musikwissenschaft und in ihren unterschiedlichen Kontexten, etwa bei der Besprechung von Musikeditionen oder von digitalen Angeboten?

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