War es gut, was er gewollt hat? Vorläufige Gedanken zum Rezensions­teil der „Musik­forschung“

Rezensionen sind Teil des Wissenschaftsbetriebs: Sie informieren über Neues, bewerten dessen Qualität und tragen damit zu dessen Sichtbarkeit und zur Reputation der rezensierten Autor:innen bei – und somit auch etwas zum Fortbestand des Betriebs. Nicht selten gliedern sie sich sogar in ihren Einleitungssätzen selbst in diesen Betrieb ein. „Das Thema XY hat in der Forschung der vergangenen Jahrzehnte immer stärkere Aufmerksamkeit erfahren …“, heißt es dann ungefähr, als ob schon die bloße Tatsache, dass Forschung zu etwas stattfinde, diese Forschung selbst und damit auch die zu besprechende Neuerscheinung (und deren Rezension) legitimiere.

An sich jedoch ist dieses Betriebshafte, also die Routine des Systems Wissenschaft, in die sich eine Rezension einfügt, gar nichts Schlechtes. Aus guten, kritischen, genauen und gedankenreichen Rezensionen lässt sich sehr viel lernen, und nicht nur für die, die da rezensiert werden, oder die Fachkundigen. Rezensionen erlauben es, in die zahlreichen Diskurse eines Fachs einzusteigen. Als Student habe ich mich systematisch durch die Rezensionsteile älterer und neuerer Jahrgänge der Musikforschung gelesen, um so Einblicke in die Breite der Themen und Ansätze und dadurch auch den Stand des Fachs zu erwerben.

Allerdings verändert sich der Wissenschaftsbetrieb auch stark, und eingespielte Routinen sind dabei zuweilen hinderlich. Das betrifft zum einen die Themen und Forschungsrichtungen, also die Frage, wo es hingeht oder auch hingehen sollte mit einem Fach, zum anderen die immer noch anhaltenden Veränderungen durch die Digitalisierung. Mit der Verantwortung betraut, nun den Rezensionsteil der Musikforschung selbst redaktionell zu betreuen, möchte ich beiden Aspekten in Zukunft auf verschiedenen Ebenen Rechnung tragen: durch neue Formate, durch Erweiterung der Themen, Perspektiven, Medien. Vor allem aber soll die Rezension Diskussionen und Debatten anstoßen, zu Reflexionen und Bilanzen einladen, ohne die die Wissenschaft in schlechtem Sinne im Betriebshaften aufgeht.

Zwei in der Musikforschung neue Formate werden dem vor allem dienen: Zum einen werden insbesondere zu neuen Forschungsfeldern nach angelsächsischem Vorbild Review Essays publiziert werden. Heraus­ragen­de Themen, Theorien, Methoden, fachpolitische Kontroversen, die sich in gewichtigen Publi­ka­tionen der letzten Jahre niedergeschlagen haben, sollen hier grundsätzlich, kritisch und auch mit eigenen weiterführenden Erkenntnissen besprochen werden. Solcher Themen gibt es viele: Die Herausforderungen der globalen Musikgeschichtsschreibung, die Veränderung des Kreativitätsbegriffs durch Künstliche Intelligenz, kulturelle Identitätskämpfe mit musikalischen Mitteln, die Frage nach den Perspektiven künstlerischer Forschung und die nicht zuletzt dadurch entwickelten neue Sichtweisen auf das musikalische Kunstwerk wären nur einige davon. (Mein geschätzter Vorgänger Manuel Gervink hat daran erinnert, dass Ludwig Finscher die Forderung nach Review Essays schon 1988 bei einer GfM-Jahrestagung in Eichstätt erhoben hatte – und man darf Finschers großen Aufsatz „Zu den Schriften Edward E. Lowinskys“, der ein Vierteljahrhundert zuvor in der Musikforschung erschienen war, wohl auch als maßgeblichen, wenn auch Solitär gebliebenen Versuch in diesem Genre bewerten).

Zum anderen werden bestimmte Publikationen auch von zwei Personen besprochen werden – wenn unterschiedliche Perspektiven auf sie lohnend erscheinen, z. B. eine inhaltlich-detailkritische und eine eher methodisch-theoretische; eine analytische und eine hermeneutische. Dieses Instrument der Doppelrezension (das Friedrich Geiger witzig Mésalliance scientifique getauft hat) muss natürlich mit Vorsicht gehandhabt werden. Vorrangig sind unterschiedliche Perspektiven, gerade auch, wenn diese Publikationen zu Kontroversen Anlass geben. Keineswegs müssen diese zwingend entgegengesetzte sein und mit konträren Wertungen einhergehen. Auf Polemik als Selbstzweck kann gerne verzichtet werden. Aber Polemik mag sich auch lohnen, sofern sie sich auf Argumente stützt statt auf Ressentiments oder Autoritätsgesten, und es damit erlaubt, auch die Position des Gegenübers zu verstehen, wenigstens zu konturieren. Den Dissens, den es in unserem Fach gibt wie in jedem anderen, der aber nur selten explizit ausgetragen wird, kann man totschweigen, aber man kann ihn auch konstruktiv nutzen.

In beiden Formaten müsste nicht zuletzt auch und immer wieder die Selbstreflexion des Fachs im Mittelpunkt stehen. Mir erscheint besonders dringlich, stets neu darüber nachzudenken, welchen Begriff wir uns von unserem eigenen Gegenstand machen: Musik, deren Existenz und Wesen zumindest die sogenannte Historische Musikwissenschaft eher als selbstverständlich vorauszusetzen scheint. Ebenso semper reformandae sind die (mit der genannten Frage eng verbundenen) internen wie äußeren Abgrenzungen und Wertsetzungen der Disziplin. So werden die immer zahlreicher werdenden Subdisziplinen des Fachs (neben den drei „Säulen“ etwa Popularmusikforschung, Frauen- und Genderforschung, Fachgeschichte, Musikphilosophie, musikalische Anthropologie …) angemessen zu berücksichtigen sein. Die rein zahlenmäßige Dominanz der musikhistorischen Forschung in Deutschland ist ein (aus der bedeutenden Musikgeschichte des Landes erklärbares) Faktum, aber das Fachorgan einer Gesellschaft, die die ganze Musikforschung zu repräsentieren sucht, sollte auch dieses Ganze im Blick haben.

Dazu gehört selbstverständlich auch der Blick über den deutschsprachigen Bereich hinaus, auch wenn er notgedrungen nur selektiv erfolgen kann; und zwar nicht nur in der Wahl der Recensenda, sondern auch der Rezensent:innen – weswegen in Zukunft auch Rezensionen in anderen Sprachen als Deutsch erscheinen werden. (Selektiv muss man natürlich auch mit den deutschsprachigen Publikationen verfahren. Die Frage der Auswahl ist ein sehr komplexes und vermintes Terrain, das im Detail zu erörtern hier den Rahmen sprengen dürfte.) Und ebenso gehört dazu ein Blick über die institutionellen Grenzen des Fachs hinaus dorthin, wo auch Forschung zu Musik stattfindet: in die Geschichtsforschung und die Kultursoziologie, in Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte, in die Sound, Popular, Media, Cultural Studies, in die Psychologie und die Paläoanthropologie. Nicht alle diese Disziplinen berücksichtigen die Einsichten der Musikwissenschaft angemessen, schon gar nicht der deutschsprachigen. Aber die Musikwissenschaft kann deren Ergebnisse berücksichtigen, ergänzen, korrigieren, und vielleicht stellt sich dann allmählich doch auch ein Austausch her. Deswegen sollte der transdisziplinäre Blick nicht zuletzt die Publikationsformen und -kulturen unterschiedlicher Disziplinen berücksichtigen. In den empirischen Disziplinen ist es beispielsweise eher selten das Buch, sondern meist der in einem (Online-)Journal publizierte gewichtige Fachartikel, der die Forschung prägt; sodass zumindest überlegt werden sollte, ob ein solcher Artikel nicht auch Objekt einer Rezension sein könnte. 

Das bringt uns zu der Frage des Mediums. Ein Großteil der gegenwärtigen Forschungsleistungen schlägt sich im Internet nieder, etwa als Datenbanken oder auch als Teil einer Hybridpublikation. Es ist nicht nur an der Zeit, solche Publikationen in der Listung der Neuerscheinungen in der Musikforschung zu berücksichtigen – also eine Rubrik: „Digitale Neuerscheinungen“ einzuführen –, sondern sie auch zu rezensieren (wie es etwa bei hsozkult.de bereits geschieht). Das kann im Rahmen der gedruckten Zeitschrift erfolgen, aber auch online (in welcher Form auch immer). Es wirft schwierige, sozusagen ontologische Fragen nach der zeitlichen Beständigkeit bzw. Dynamik des zu Rezensierenden auf – aber dafür lassen sich pragmatische Lösungen finden.

Die Vorteile der Online-Rezension einer Online-Publikation liegen auf der Hand: Man kann direkt auf die jeweiligen (Unter-)Seiten einen Link setzen und damit seine Behauptungen überprüfbar machen. (Dass der Zugang zu Online-Publikationen oft kostenpflichtig ist, schränkt natürlich diese Überprüfbarkeit für viele Leser:innen ein. Aber immerhin gibt es diese Möglichkeit, während man normalerweise ein rezensiertes Buch gar nicht vor sich hat.) Überhaupt sind Materialien aller Art in eine Online-Rezension in ganz anderer Weise integrierbar, was für vielerlei Rezensionstypen (die Klärung der Rechte vorausgesetzt) illustrative Möglichkeiten eröffnet – etwa für die Besprechung von Quellenuntersuchungen und Editionen, von vorwiegend analytisch angelegten Arbeiten, auch ikonographischen Bände, und natürlich für jede Art von medienanalytischer Publikation.

Alle diese Überlegungen sind natürlich nur dann wirklich fruchtbar, wenn die Rezensionen auch dem Ziel gerecht werden, jene Verhandlungen, Diskussionen und Debatten immer wieder neu anzustoßen, aus denen Wissenschaft besteht – insbesondere eine Geistes- und Kulturwissenschaft wie unser Fach.

Was also sollen Rezensionen leisten? Eine klassische Festlegung besagt, eine Rezension müsse drei Fragen beantworten:

Was hat der Autor gewollt?
Hat er erreicht, was er gewollt hat?
War es gut, was er gewollt hat?

Man kann sagen, dass die beiden ersten Fragen von fast jeder Rezension in der Musikforschung beantwortet werden: Fast jede beginnt mit der Absicht der Autor:in und misst daran in einem Referat des Inhalts das Erreichte. So weit, so gut. Aber die dritte Frage hat es in sich. Denn was heißt „gut“? Aus welcher Position heraus wird hier über die Relevanz von Forschungsbeiträgen, -themen und -richtungen geurteilt? An dieser dritten Frage vor allem entscheidet es sich, ob die Rezension mehr wird als bloß eine isolierte Bewertung und selbst zum Forschungsdiskurs beitragen kann; ob sie die Legitimation einer Veröffentlichung nicht nur darin sieht, dass zu dem Thema in letzter Zeit viel geforscht worden ist. Wie aber beurteilt man solche Relevanz und Legitimation?

Damit sind wir wieder beim Wissenschaftsbetrieb angelangt, mit dem diese Überlegungen begonnen haben. Zu diesem Betrieb gehören Trends und Moden. Das war schon immer so: Stilgeschichte, Geistesgeschichte, Positivismus, immanente Analyse, musikalische Semiotik haben ihre Zeit gehabt, und was sie an Einsichten mit sich gebracht haben, ist auch noch in heutiger Wissenschaftspraxis aufgehoben. Ist also „gut“, was sich dem Diktat gegenwärtiger Mode unterwirft, was sich ihm widersetzt oder was in kritischer Dialektik mit ihm umgeht? Letzteres wohl, wird man sagen. Aber Antworten auf die Frage, plausible wie kontroverse, zum Widerspruch herausfordernde, möchte man lesen. Denn der Mittelweg ist (wie Schönberg im Vorwort zu op. 28 feststellte) der einzige, der nicht nach Rom führt.

Wer sachliche und scharfsinnige, aber auch mutige und meinungsstarke Rezensent:innen sucht, der kann sie finden und sie mit mehr oder weniger Überredungskunst auch für die Besprechung dieser oder jener Publikation gewinnen. Gewisse praktische Probleme ergeben sich dabei immer. Auf der Ebene der Professorinnen und Professoren findet man zwar oft viel guten Willen und natürlich auch in hohem Maße Sachkenntnis, aber mit dem Zeitbudget sieht es oft schlecht aus. Manche haben sich auch ganz vom Rezensieren verabschiedet (zumal Rezensionen im heutigen Wissenschaftssystem kaum honoriert und oft nicht einmal als Publikation erfasst werden). Andererseits gibt es eine oft sehr an Besprechungen interessierte Schicht im Mittelbau, auf der Post-Doc- und auch der Prae-Doc-Ebene, deren Generationsblick auf eine Publikation womöglich auch ein ganz neuer ist. Und warum sollte eine Dissertantin, die eine ausgemachte Expertise in einem Spezialfeld entwickelt hat, nicht eine andere Arbeit zum Thema besprechen, mit der sie sich ohnehin kritisch auseinandersetzen muss? Unbefangenheit ist ohnehin nirgendwo gegeben. Nachwuchswissenschaftler:innen in prekären Arbeitsverhältnissen stehen in Gefahr, es sich mit irgendjemand durch ein deutliches Urteil zu verscherzen; Professor:innen, durch zahlreiche Verpflichtungen und Freundschaften gebunden, sind auch wieder zu allerlei delikaten diplomatischen Erwägungen gezwungen. Es hatte schon seinen Grund, dass man im 18. Jahrhundert Rezensionen vor allem im Schutz der Anonymität publizierte. Die ideale Rezensent:in, der niemandem etwas schuldig ist und hart an der Sache urteilt, ist eben schwer zu finden. Und doch ist (ersten Erfahrungen zufolge) die Bereitschaft zur Rezension immer noch Bestandteil unserer Fachkultur – vielleicht gerade, um aus dem Nebel der anonymen Gutachten und Peer reviews einmal aufzutauchen und sich sichtbar zu positionieren. Der Rezensionsredakteur wünscht sich auch in Zukunft viele rezensionsfreudige Kolleg:innen. Ihr Einsatz geschieht zum Besten nicht nur des Betriebs, sondern unserer Disziplin als Ganzes.

Zum Autor: Wolfgang Fuhrmann ist Professor für Musiksoziologie und Musikphilosophie an der Universität Leipzig und seit der Ausgabe 1/2022 für den Rezensionsteil der Zeitschrift Die Musikforschung verantwortlich.

Ein Kommentar

  • Schön zu sehen, dass die Musikforschung nun auch das Format des Review Essays einführt. Falls man wissen möchte, wie so ein Review Essay in deutscher Sprache aussehen kann, lohnt sich ein Blick in Act – Zeitschrift für Musik und Performance, die seit 12 Jahren nicht zwischen „Review Essays“ und ’normalen‘ Rezensionen unterscheidet (https://www.act.uni-bayreuth.de/de/cfreviewessays/index.html). Und das Jahrbuch Lied und populäre Kultur hat in seinem Rezensionsteil auch ab und zu eine ‚Sammelrezension‘, die meistens auch Review Essays sind. Aus meiner Sicht als Herausgeber und Redakteur dieser beiden Publikationen (bei Act nicht mehr, dort aber federfühend am Konzept beteiligt) sind Review Essays für die Autor*innen um einiges zeitaufwendiger als einfache Rezensionen. Review Essays werden aus meiner Erfahrung meistens von Autor*innen angeboten, die eine gewisse Dringlichkeit verspüren, einen Standpunkt im Fach zu vertreten. Aber wenn man diese Dringlichkeit nicht verspürt, dann bleibt ja noch die einfache Sammelrezension.

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