Der Ursatz im Nebensatz

von Susanne Westenfelder

Das Gerücht, dass die deutsche Musiktheorie ein Problem habe, geistert schon seit einer ganzen Weile durch die Hochschulflure der Nation. Zu altbacken, zu männlich seien die in dieser Disziplin vertretenen Ansichten. Derlei Vorurteile entkräftet das kürzlich erschienene Buch Schenkerian Analysis. Analyse nach Heinrich Schenker leider nicht.

Ein erster Blick ins Inhaltsverzeichnis macht stutzig: Trotz jahrelanger Bemühungen, in dem Fachbereich mehr weibliche Stimmen hörbar zu machen, fällt auf, dass an lediglich einem von neunzehn Beiträgen eine Frau mitgeschrieben (!) hat. Ganz schön mau. Die Namen eines Großteils der Autoren sind so altbekannt wie renommiert: Es schreiben u. a. Michael Polth, Carl Schachter und Hermann Danuser. Doch angesichts der Qualität einiger Beiträge liegt die Frage auf der Hand, ob es nicht Wissenschaftlerinnen oder Musikerinnen gegeben hätte, die bessere Beiträge verfasst hätten, oder ob man nicht an Absolventinnen, Doktorandinnen usw. hätte ausschreiben können und müssen, um qualifizierte Meinungen zu dem vorgebrachten Thema zu entdecken. Das hätte den Horizont des Vitamin-B-verdächtigen Kreises eventuell erfrischend erweitert.

Mit Blick auf die Frauenquote von 2,6 Prozent und dem manchmal vorschnell geäußerten „Und das im Jahr 2021!“ muss allerdings eingewandt werden, dass es sich bei den versammelten Texten um Vorträge des ersten deutschen ausschließlich Schenker gewidmeten Symposiums handelt – 2004 fand es statt. Dennoch: Mit einer zeitgemäßen Erweiterung des Autorenkreises hätte man sich sowohl der Genderfrage stellen als auch den Fallstrick, im vorliegenden Band ausschließlich Aufsätze zu veröffentlichen, die bereits 17 Jahre oder mehr auf dem Buckel haben, elegant umgehen können. Das bekannte Klischee der altbackenen Musikwissenschaften steht schüchtern im Raum. Blicken wir in das Buch.

Der Ruf des Konservativen: Er hängt eher der deutschen als der englischen Musiktheorie und Musikwissenschaft an, obgleich der Blick auf die in beiden kulturellen Räumen entstandenen musikalischen „Sprachen“ lange Zeit – bereits Adorno ereiferte sich drüber – ein gegenteiliges Bild vermittelte. Und vielleicht stellt eben jener Theodor Wiesengrund einen der Ursprünge des Problems dar: Adorno, ein Autor von geradezu einschüchternd scharfem Verstand und ebenso einschüchternd verschachtelten Sätzen, galt lange, gilt sicherlich noch immer als das Maß aller Dinge. In deutschen Publikationen finden sich dementsprechend Bandwurmsätze, die mit Fachbegriffen nicht geizen – auch dann nicht, wenn sich mit Leichtigkeit verständlichere Formulierungen gefunden hätten. Derlei Texte sind anstrengend zu lesen und schwer zugänglich. Doch anscheinend möchte doch jede*r genau diesen Adorno’schen Tonfall bedienen – scheint er doch geballte Expertise auszustrahlen. Oder möchte man durch Name-Dropping und Fach-Latein lediglich skeptische Zweifler*innen auf Distanz halten?

Dieser Verdacht kommt leider auch auf, wenn man mit den Grundkonzepten der Schenker’schen Analyse und ihren Begriffen vertraut ist und sich bei der Lektüre trotzdem außen vor fühlt. Denn: Viele Aufsätze in Schenkerian Analysis sperren sich nicht nur stilistisch, sondern auch inhaltlich-thematisch einem unmittelbaren Verständnis. Die Mehrzahl der Beiträge sind für ein Fachpublikum geschrieben, dem ich als Musiktheoretikerin offenbar nicht angehöre. Aber wer ist es dann – dieses „Fachpublikum“? Wie viele Menschen sind mit Details und Begrifflichkeiten der Schichtenlehre vertraut und sprechen die deutsche Sprache gut genug, um den Ausführungen der Autoren des Bandes folgen zu können? Nicht umsonst fand das erste ausschließlich Schenker gewidmete Symposium erst 2004 statt: Es gab bis dato so gut wie keine deutsche Schenker-Rezeption! Schenkerism ist kein Bestandteil des regulären Lehrplans deutscher Musikhochschulen. Und selbst wo das der Fall ist, findet der Unterricht lediglich vereinzelt statt – etwa als Workshop oder Wahlfach für Interessierte. Es bleibt also offen, für wen das Buch, abgesehen von einer Handvoll Expert*innen, geschrieben sein soll – und das, obgleich im Vorwort angekündigt wird, das hier abgebildete Symposium habe das Ziel verfolgt, „Erfahrungslücken zu schließen und die analytische Praxis nach Schenker auch Schenker-Novizen so detailliert und konkret wie möglich zu vermitteln.“

Selbstverständlich enthält der Band auch jene „konkret vermittelnden“ Aufsätze, aber leider verfehlen auch die meisten dieser Texte das Thema knapp oder warten mit Allgemeinplätzen auf. Beispiele: Eine interessante Werkanalyse wird auf ca. 30 Seiten ausgeführt – ohne eine Spur von Schenkers Theorien. Erst ganz am Schluss des Aufsatzes wird die Kurve zu seinen Analysemethoden geschlagen. Gelegentlich wird jene späte Wendung sogar noch negiert, indem etwa erklärt wird, dass man den betreffenden Aspekt des Werkes mit Hilfe der Schichtenlehre eben nicht analysieren könne. An diesen Stellen entsteht der Eindruck eines Alibi-Bezuges zum Titel des Buches – als habe man sich noch schnell mit einem Vortrag zu jenem im vorliegenden Band dokumentierten Symposium bewerben wollen und kurzfristig dem Forschungsgebiet irgendeinen Schenker-Bezug abringen wollen. An anderer Stelle wird – überspitzt – nach einer langen Betrachtung im Schlusswort postuliert, dass die Analyse nach Schenker darum relevant sei, da sie neue Ideen für Interpretationen entstehen lasse. Eine solch bequeme Legitimation der Analyse durch ihren Einfluss auf die Realisierung des Werkes wurde bereits so oft ausgeführt, dass ein derartiges Fazit als unoriginell gelten darf.

Und dann gibt es noch ein paar Aufsätze, die richtig gut sind. Von umwerfender Kreativität sind beispielsweise die Ausführungen des Philosophen Bruno Haas („Die Logik der Schenkerschen Musikanalyse und ihre Bedeutung für die allgemeine Ästhetik“). Die Beobachtungen begeistern, da hier ein interdisziplinär bewanderter Autor phänomenologische Beobachtungen aus dem Bereich der Kunstwissenschaften und Ästhetik auf originelle, aber rationale Weise auf akkordische Phänomene anwendet. Haas’ Sprache ist präzise, verkompliziert nie unnötig den Sachverhalt und bleibt somit beeindruckend verständlich. Ebenso fällt auf, wie unterhaltsam, zugänglich und dabei scharfsinnig die meisten im Buch abgedruckten englischsprachigen Texte sind. Die pointierten Beobachtungen dieser Texte werden konkret und nachvollziehbar vermittelt – die essayistische Tradition der englischen Sprache wird offenbar.

Zum eigentlichen Thema des Bandes – der Analyse nach Heinrich Schenker. Die titelgebende „Schenkerian Analysis“ spaltet die Musikwissenschaft: Im englischsprachigen Raum wird der Musiktheoretiker Schenker (zumeist) verehrt, in Deutschland hingegen ist auffallend wenig Literatur zur Schichtenlehre erschienen. Das hat natürlich Gründe: Schenkers Lehren und Werke waren während der Diktatur der Nationalsozialisten aufgrund seiner jüdischen Herkunft (Schenker starb bereits 1935 in Wien) verfemt. Doch auch die progressiven Künstler*innen der Nachkriegszeit konnten mit Schenkers Ausführungen wenig anfangen, waren diese doch in erster Linie auf ein klassisch-romantisches Repertoire anwendbar und eben nicht – Ausnahmen bestätigen die Regel – auf moderne, atonale Musik. Der Verbreitung der Schichtenlehre stand auch die scharfe Kritik von Carl Dahlhaus entgegen. Heute steht bei der Kritik an der Schenker’schen Theorie ein anderer Aspekt im Vordergrund: Die Äußerungen des Musiktheoretikers und die gesamte von ihm entwickelte Analysemethode weisen höchst problematische Bezüge auf. Spätestens durch die viel rezipierten Studien des US-amerikanischen Professors Philip Ewell – leider wird er im vorliegenden Buch nicht erwähnt – dürften diese ins Licht der Öffentlichkeit gerückt sein: In Schenkers Analyseansätzen klingt ein Gedankengut an, das – obgleich Schenker selbst jüdisch war – den Nationalsozialismus ideologisch berührt: Ein missverstandener Darwinismus (missverstanden, da laut dem bekannten Postulat „Survival of the fittest“ sich eben nicht die „fittesten“ Tierchen durchsetzen, sondern die am besten angepassten) durchzieht seine Ausführungen. In seinen Texten finden sich unüberschaubar viele Zeugnisse einer chauvinistischen und rassistischen Haltung. Und das muss in einem in Deutschland publiziertem Buch über Schenkers musiktheoretische Verdienste – so nachvollziehbar und berechtigt die Neugier auf die in Deutschland lange gemiedene Schichtenlehre ist – problematisiert werden. Das Vorwort liefert nur vage Andeutungen: die „politischen und weltanschaulichen Digressionen“ Schenkers würden für „Irritationen“ sorgen. Der wohl expliziteste Satz zu jenem Konflikt: „Schenkers deutschnationale Exkurse konnten (sic!) angesichts der Verwüstung des Weltkriegs nur Ewiggestrigen tolerabel erscheinen“. Doch das Präteritum täuscht: Eine Analysemethode, in der nur die stärksten Töne bestehen und weniger starke eliminiert werden, in der eine Hierarchisierung der Klänge den Kern der analytischen Arbeit ausmacht, in der der „natürliche Zeugungswille“, die „Triebkraft“ der Töne das Stück formt und in der restaurativ das Ergebnis der Betrachtung – der „Ursatz“ – bereits vor der Analyse des Werkes feststeht, gehört gerade in einem 2021 erschienenen Werk weiterführend erörtert und thematisiert.

Sollte man also Schenkers Arbeiten hierzulande in den Giftschrank verbannen? Heinrich Schenker hat mit seiner Schichtenlehre ein Werkzeug erschaffen, mit dem sich die Identität eines Themas, eines musikalischen Spannungsbogens detailliert nachvollziehen lässt. Aber: Dem Buch ein kurzes Glossar anzuhängen, reicht nicht. Wir brauchen Literatur über Schenker, die sich pädagogisch auf unterschiedlichen Niveaus mit seinen Theorien auseinandersetzt, ohne dabei den Schöpfer jener Theorie als Genie zu verklären. Wir brauchen eine vielperspektivische Betrachtung der Schichtenlehre, wir brauchen sowohl die Problematisierung von Schenkers Weltanschauungen, die sicherlich zu seinen musikalischen Ideen beitrugen, als auch die Verteidigung jener Ideen, um aufzuzeigen, warum auch heute noch sein Blick auf Musik unser Wissen und unser Musizieren bereichern kann. Und wenn all diese Gedanken gedacht wurden und all diese pädagogische Literatur ihre Wirkung entfalten konnte, wenn dem Großteil der deutschen Musikstudent*innen die Grundlagen der Schichtenlehre vertraut sind, dann bin ich gespannt auf einen Textband mit unterhaltsamen und überraschenden Texten und Analysen, mit Ausblicken und Anregungen, dann bin ich gespannt auf einen Textband mit dem Titel Schenkerian Analysis. Analyse nach Heinrich Schenker.

Schenkerian Analysis. Analyse nach Heinrich Schenker, hrsg. von Oliver Schwab-Felisch, Michael Polth und Hartmut Fladt (= Studien und Materialien zur Musikwissenschaft, Bd. 112), Hildesheim: Olms 2021. 331 + 131 S.,138 Euro.

Zur Autorin: Susanne Westenfelder unterrichtet Tonsatz an der Hochschule für Musik Berlin und der Universität Potsdam. Sie arbeitet außerdem als Musikjournalistin und Podcasterin.

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