0 Ein neues Vorwort
Die Einladung, die Blogserie Can the History of Music Theory Be Decentered?, die 2020 auf dem History of Music Theory Blog erschien, in deutscher Übersetzung auf dem musiconn.kontrovers Blog zu veröffentlichen, bringt eine interessante Herausforderung mit sich. Selbstverständlich gibt es wichtige Parallelen im deutschen und amerikanischen musiktheoretischen Diskurs, und die Perspektive, eine weiterführende Diskussion anzukurbeln, erscheint verlockend. Aber zunächst stehen ganz eindeutig die Eigenheiten der US-Kultur im Vordergrund, die ursprünglich zu diesen Überlegungen zu einer Dezentrierung geführt haben. Da wäre zuallererst die Black-Lives-Matter-Bewegung zu nennen, und praktisch im gleichen Atemzug die Regierung von Donald Trump, die in den vergangenen Jahren in den USA den politischen und kulturellen Ton gesetzt hat. Sicherlich nicht zu Unrecht hat Ta-Nehisi Coates Trump provokant als Amerikas „ersten weißen Präsidenten“ bezeichnet – als den Nachfolger Obamas nämlich, der sich ganz ausdrücklich (und nicht nur unter der Hand) um die Belange seiner vorwiegend weißen Wählerschaft kümmerte.
Aus dieser politisch-kulturellen Konstellation lässt sich denn auch der Impetus erklären, unter dem die Überlegungen zu einer Geschichte der Musiktheorie unter dem Banner der Diversity führte. Das Stichwort der Diversity, also kulturelle Vielfalt, ist nicht ganz das Gleiche wie die Multikulturalität aus den 1990er Jahren. Gerade in den letzten Jahren ist die Diversity in verschiedene Abkürzungen aufgegangen, etwa DIBAR oder DEIB, wobei I für Inclusion, B für Belonging, AR für Anti-Racism, und E für Equity steht. Ganz im Vordergrund der Diversity-Debatte steht die Repräsentation, und an vorderster Front die Sichtbarkeit. Plakativ gesagt soll die Diversity sichtbar und spürbar sein, um Mitgliedern möglichst verschiedener Gruppierungen Identifikationsmöglichkeiten zu bieten.
Diese Bewegung ist auch an der Musiktheorie nicht spurlos vorbeigegangen. Die Society for Music Theory brachte 2019 mit dem Plenary Panel „Reframing Music Theory“ eine längst überfällige Debatte ins Rollen. Unter den vier Vorträgen, die Fragen wie Gender und #metoo, Rassismus, Transnationalität sowie Behinderung und Integration thematisierten, stand dabei ganz eindeutig der von Phil Ewell vorgebrachte Vorwurf, dass es sich bei der Musiktheorie speziell um „weiße“ Musiktheorie handle, im Zentrum der Diskussion. Als einige Monate später die Zeitschrift Journal of Schenkerian Studies eine Reihe von Repliken zu Ewells Arbeiten veröffentlichte, von denen ein Teil Ewell den Vorwurf des Antisemitismus machte und andere ganz unverhohlen auf rassistische Stereotype rekurrierten, wurde dieser Skandal sogar in der nationalen Presse registriert.[1] Die tiefen Wunden, die diese Debatte schlug, sind noch nicht verheilt.
Aber auch im pädagogischen Rahmen bestehen wesentliche Unterschiede zwischen den Fachkulturen auf beiden Seiten des Atlantiks. Allem voran das strukturierte Graduiertenstudium, das auf einem relativ klar abgesteckten Fächerkanon aufbaut, das in der Regel die ersten zwei Jahre des Doktorandenstudiums ausmacht und das weit verbreitete Techniken wie Transformational Theory, Pitch-Class Set Theory, die (von Ewell als „weiß“ klassifizierte) Schenkersche Lehre sowie die Geschichte der Musiktheorie umfasst. Die Geschichte der Musiktheorie fällt bei diesem Fächerkanon ein wenig aus dem Rahmen, da ihr kein bestimmter analytischer bzw. theoretischer Ansatz zugeordnet ist, sondern sie ‚die‘ gesamte Geschichte abdecken soll – am besten alles in einem Semester. Dass dieser Anspruch von vornherein einigermaßen utopisch ist, steht außer Frage.
Schließlich muss noch vom Mythos Syllabus, also dem Seminarplan, berichtet werden. Der durchaus detaillierte Syllabus wird hierzulande am Semesteranfang an die Studierenden ausgehändigt und stellt eine Art Vertragswerk dar, das beschreibt, was von Woche zu Woche behandelt wird, aber auch was von den Studierenden an Leistungen erwartet wird. Das beinhaltet in der Regel eine Reihe von Artikeln oder Kapiteln aus Fachbüchern und kann auch ein Thesenpapier oder einen als Diskussionsgrundlage zu benutzenden Fragenkatalog umfassen. Die Seminarsitzungen werden dann entsprechend auch zum Großteil mit Diskussionen zum Gelesenen bestritten, wobei Referate dabei eher ungewöhnlich sind. Aufsätze – oder mitunter auch Tests – sind hingegen keine Seltenheit im eher verschulten Lehralltag amerikanischer Graduiertenprogramme.
Als Grundeinstellung, um die Geschichte der Musiktheorie zu unterrichten, ist ein unerschütterlicher Optimismus zu empfehlen, da das Fach eine Vielzahl verschiedener Fähigkeiten und Interessen erfordert. Quellentexte beanspruchen viel Zeit und Muße und werden zumeist, im Interesse der Zeit, nur schlaglichtartig in kurzen Auszügen besprochen. Obwohl in den 1990er Jahren, vor allem von Yale und Cambridge University Press, viele wichtige Texte der Musiktheorie ins Englische übersetzt wurden, lässt die Quellenlage insgesamt einiges zu wünschen übrig. Nur selten habe ich in vergangenen Jahren den Mut gehabt, die Studierenden Originaltexte (auf Französisch, Deutsch oder Latein)[2] lesen zu lassen – und wenn, dann häufig in Form von Gruppenprojekten. Weiterhin muss ein kultureller und geistesgeschichtlicher Rahmen abgesteckt werden, der in den meisten Fällen über das reguläre Schulwissen hinausgeht und philosophische oder wissenschaftliche Kenntnisse erfordert. Und schließlich spielen historiographische Modelle häufig eine wichtige Rolle in der Geschichte der Musiktheorie. Die wahre Kunst, einen Syllabuszusammenzustellen, besteht unter diesen Umständen eben darin, das wöchentliche Lesepensum einigermaßen im Rahmen zu halten. Ich bemühe mich, 100 Seiten nicht zu überschreiten, obwohl ich sicherlich häufiger gegen diese Faustregel verstoße als mir lieb ist.
In den USA sind Lehrbücher bzw. textbooks weit verbreitet, was sicherlich auch zur Kanonisierung des verbindlichen Fachwissens beiträgt. Dass es für die Geschichte der Musiktheorie kein Lehrbuch gibt, ist bedauerlich, aber verständlich – die Nachfrage ist bei diesem Fach doch eher gering. In dieser Situation erfüllt die verdienstvolle Cambridge History of Western Music Theory (2002) eine ganz wesentliche Rolle auf jedem Syllabus. Dennoch ist das Feld ganz zwangsläufig darauf angewiesen, dass alle Beteiligten sich untereinander unter die Arme greifen. So wird immer noch im ehrfurchtsvollen Flüsterton von einer legendenumwobenden Sitzung beim Jahreskongress der AMS/SMT in Los Angeles 2006 gesprochen, bei der die Podiumssprecher*innen ihre Syllabi an die Teilnehmer der Sitzung austeilten und so auch anderen die Gelegenheit gaben, voneinander zu lernen. (Dabei sollte angemerkt werden, dass zu jener Zeit sich das Internet noch in Kinderschuhen steckte und fast alles auf Papier stattfand.) Inzwischen veröffentlichen verschiedene Professor*innen ihre Syllabi im Internet, für jedemann/frau einzusehen, wobei es allerdings selten zum wirklichen Ideenaustausch kommt. Zwar enthält der History of Theory Blog eine sehr hilfreiche Bibliographie, jedoch ist mir, im Gegensatz zu anderen (insbesondere neu entstehenden) Forschungszweigen, keine Austauschbörse zur Geschichte der Musiktheorie bekannt.
1 Prequel: Fünf Klassiker
Bis vor kurzem war die Musiktheorie-Prüfung in Harvard ziemlich frei gestaltet[3] und erlaubte es unseren Studierenden, sich auf eine beliebige Epoche oder ein beliebiges Thema in der Geschichte der Musiktheorie (GdM) zu konzentrieren. Meine Kolleg*innen und ich kamen jedoch zu dem Schluss, dass dieses Modell zu schwerfällig war. Eine Überarbeitung war notwendig. Um die Prüfung für alle Seiten beherrschbarer zu machen, beschlossen wir, dass die Fragen aus einer Folge von fünf zentralen Musiktheoretikern aus allen Epochen stammen sollten.[4]
Ganz allgemein versuchen wir in unserer Prüfung ein Gleichgewicht zu finden zwischen jenen Dingen, die „in den Werkzeugkasten der Musiktheoretiker*innen gehören“ (d. h. für den Arbeitsmarkt wichtig sind), und den persönlichen Interessen der Studierenden. Während wir die Anforderungen auf ein Minimum beschränken, versuchen wir, diesen Werkzeugkasten mit Fähigkeiten und Forschungsgebieten zu füllen, die zukünftige Arbeitgeber*innen erwarten. Während sich die Prüfungsstruktur in einigen Bereichen am Kanon orientiert, bietet sie in anderen Bereichen mehr Freiraum.
Die „Fünf Klassiker“ (um einmal ganz konfuzianisch[5] zu werden) unserer GdM-Prüfung waren einer dieser kanonischen Bereiche. Sie decken eine Reihe von Epochen, Themen und Ansätzen ab, die den Studierenden eine Grundlage für weitere Forschung bieten sollen. Die aktuelle Liste umfasst:
- Boethius
- Zarlino
- Rameau
- Helmholtz
- Schönberg
So weit, so gut. Doch allmählich dämmerte uns, dass wir all diese Figuren auch irgendwie unterrichten mussten. Unter Berücksichtigung anderer obligatorischer Kurse wurde uns klar, dass wir der GdM nur ein Semester widmen konnten. Und in diesem Semester sollten wir fünfzehn Jahrhunderte zwischen Boethius und Schönberg abdecken.
Jede Herausforderung ist eine Chance. Nach einigen Versuchen, diesen fünf Theoretikern in einem Semester gerecht zu werden, wurde mir klar, dass keiner meiner Pläne funktionierte. Es gab immer zu viel zu wissen – zu viel musikalisches Repertoire, zu viele Texte, zu viel Geistesgeschichte, zu viel kultureller Hintergrund, zu viel Historiographie. All das ließ sich auf keinen Fall in ein Semester quetschen. Ich wollte schon aufgeben, als mir eine Lösung einfiel: Statt mit der fundamentalen Fremdheit von Boethius zu beginnen, wäre es viel sinnvoller, unsere Geschichte am Ende zu beginnen. Warum nicht mit Schönberg anfangen, dessen musikalische Welt den meisten Studierenden viel näher liegt als die kriegszerstörte Spätantike des Boethius?
Indem wir in umgekehrter chronologischer Reihenfolge vorgingen und mit dem Thema „Ende der Tonalität“ begannen, konnten wir musikgeschichtliches Wissen nutzen, das viele Studierende in den Kurs mitbrachten. Auf diese Weise befassten wir uns zunächst mit den im späten 19. Jahrhundert so häufig beschworenen Entwicklungslinien der Musik, die nachträglich formuliert worden waren,[6] um zu erklären, warum Schönbergs Atonalität entweder eine historische Notwendigkeit oder ein schrecklicher Irrweg war, der zum unwiederbringlichen Verlust einer einst blühenden Tradition führte. Diese Diskussionen ermöglichten es, verschiedene Themen der Geschichtsschreibung einzuführen, und leiteten fast unmerklich zum nächsten Thema auf unserer Liste über: die Frage der Tonalität und die Herausforderungen, die Helmholtz’ naturwissenschaftlicher Ansatz für die traditionelle Musiktheorie darstellte.
Es dauerte nicht lange, bis ich erkannte, dass das eigentliche Problem weniger der Stoff selbst war, sondern die Erzählung einer kohärenten Geschichte innerhalb eines Semesters. (Im Gegensatz dazu hatte ich zuvor Seminare unterrichtet, die sich ausschließlich auf eine einzige historische Figur wie Rameau oder Riemann oder auf eine Auswahl von Themen innerhalb eines bestimmten Jahrhunderts konzentrierten.) Rückwärts in der Zeit zu gehen war nicht unbedingt ein Problem, solange wir diese Bewegung als eine Abfolge von Themen und nicht von Personen betrachteten. Dass sich die Prüfungsstruktur immer noch auf die Werke von fünf zentralen Persönlichkeiten konzentrierte, war unproblematisch, wenn das Seminar der Geschichte theoretischer Konzepte folgte. Und im Sinne eines roten Fadens hätten wir uns sicherlich schlechter entscheiden können als für die alte Geschichte der Tonhöhenverhältnisse und für sich wandelnde Schlüsselbegriffe wie Konsonanz, Tonleiter, Kontrapunkt, Harmonie und Tonalität. Eine umgekehrte chronologische Reihenfolge stellte zumindest eine andere Perspektive sicher, die nicht die abgedroschenen Topoi der fortschreitenden Komplexität auf dem Weg in die Gegenwart wiederholen würde. Indem wir uns in der Zeit zurückbewegten, mussten wir uns mit der – wie ich hoffte, verblüffenden – Erkenntnis auseinandersetzen, dass der numerische Strukturalismus der pythagoreischen Tradition nie ganz verschwunden, sondern lediglich in den Hintergrund getreten war, weil wir uns auf die gleichschwebende Stimmung beziehen. Die mathematische Realität unserer Musik ist so komplex, dass wir kollektiv mit den Achseln zucken und uns anderen Themen zuwenden.
Schließlich änderte ich den Seminarplan in einem zentralen Punkt: Wir schritten rückwärts bis Rameau und machten dann einen harten Schnitt. Die zweite (kürzere) Hälfte des Semesters begann mit Boethius und seiner Übernahme der griechischen Modi und ging dann weiter zu Zarlino. Dies hatte den Vorteil, dass wir das Konzept der Modi nicht verkomplizierend innerhalb eines kontrapunktischen Rahmens einführen mussten. Der Plan hatte den zusätzlichen Vorteil, dass wir unseren Überblick mit weiteren historiographischen Themen abschließen konnten, indem wir zur Frage der Tonalität zurückkehrten, in deren Dienst Zarlino von späteren Kommentatoren wie Riemann und Matthew Shirlaw gestellt wurde. Mit Zarlino am Ende konnten wir den Kreis schließen und die umfassenden historiographischen Fragen, die wir zu Beginn aufgeworfen hatten, miteinander verbinden.
Ich war ziemlich zufrieden mit der Struktur des Semesters. Sicher, sie war nicht perfekt. Es gab keine Formenlehre, keine Affektenlehre, keine rhythmische Theorie. Es gab keinen Koch, keinen Kirnberger, keinen Fux, keinen Mersenne, keinen Gaffurius, keinen Marchetto, keinen Guido, keinen [hier Ihren Lieblingstheoretiker einfügen]. Wie jeder Seminarplan hatte auch meiner Lücken. Dennoch bot er Zusammenhang und eine angemessene Reichweite. Darüber hinaus gelang es durch die verdrehte Chronologie, die kanonischen Figuren (und die Studierenden) aus ihrer Komfortzone herauszulocken.
2 Fünf andere Klassiker
Aber ich konnte mich nicht auf meinen Lorbeeren ausruhen. Noch während ich den Seminarplan fertigstellte, las ich einige neuere Untersuchungen zur Critical Race Theory und zur Musiktheorie – insbesondere Phil Ewells Serie von Blogbeiträgen „Confronting Racism and Sexism in Music Theory“ und Vijay Iyers Analyse der jüngsten Theorien zur Improvisation. Was ich las, ließ mich stutzen. Unser Seminarplan verließ nicht den heteronormativen weiß-männlichen Rahmen. Er schrieb denselben Kanon sakrosankter Figuren fort, der sich geschlechtsneutral und „farbenblind“ gibt, in Wirklichkeit aber schlicht weiß und männlich ist. Dass Fux, Koch und Marx ausgelassen wurden, erweist sich als einigermaßen unerheblich – was diesem Seminarplan fehlte, waren Frauen, People of Color oder LGBTQIA+-Personen.
Warum ist das bemerkenswert:
- Repräsentation ist wichtig. (Als schwuler weißer Mann muss ich gestehen, dass ich diesen Punkt manchmal unterschätze. Auch wenn ich mich selbst einigermaßen gut vertreten sehe, heißt das nicht automatisch, dass es anderen auch so gehen muss.)
- Wenn wir das Problem der Repräsentation nicht selbst in die Hand nehmen, können wir nicht erwarten, dass sich etwas wandelt. Das Argument, dass wir die Geschichte nicht ändern können – dass bestimmte Figuren einfach wichtiger waren als andere, dass bestimmte Figuren neue Ideen in die Diskussion eingebracht haben – ist dabei irrelevant. Wenn wir fünf Persönlichkeiten aus einem Zeitraum auswählen, der sich über anderthalb Jahrtausende erstreckt, lassen wir zwangsläufig zahllose andere aus.
Ist ein solches Ziel überhaupt zu erreichen? Wie sähe ein vergleichbarer Seminarplan aus, der versucht, dieses Maß an Vielfalt zu erreichen? Was, wenn er keine weißen Männer enthielte und stattdessen einen Kanon ausschließlich aus Frauen und PoC-Personen aufstellte? Für die Planung wollte ich bei unserer fünfteiligen Struktur bleiben. In meinem Gedankenexperiment kam ich auf Folgendes:
- Ptolemais von Kyrene (3. Jahrhundert v. Chr.?)
- Al-Fārābī (ca. 872-950/51)
- Zhu Zaiyu (1536-1611)
- Johanna Kinkel (1810-1858)[7]
- Julián Carrillo (1875-1965)
Auch diese Figuren fügen sich zu einer ziemlich stimmigen Geschichte. Es ist eine Geschichte über Stimmung und Konsonanz und die größeren Einheiten, die sich aus unseren Entscheidungen ergeben, Töne so und nicht anders zu teilen. (Andere Figuren, die ich in Betracht gezogen, aber letztlich nicht einbezogen habe, sind der japanische Gelehrte Shōhe Tanaka, über den Danny Walden geschrieben hat, und der US-amerikanische Experimentalmusiker Henry Cowell, auf den ich noch zurückkommen werde. Es gibt zweifellos noch viele andere, die ich nicht einmal auf dem Schirm habe).
Bei der Zusammenstellung dieser alternativen „Fünf Klassiker“ waren verschiedene Faktoren ausschlaggebend. Es lohnt sich, die Überlegungen ausführlich darzulegen.
- Welche Themen sollen behandelt werden? Welche zentralen Konzepte können die Studierenden in anderen Zusammenhängen weiter erforschen?
- Welcher historische Zeitrahmen ermöglicht eine weitgehend zusammenhängende Erzählung, die sich idealerweise über das gesamte Semester erstreckt?
- Wie können wir eine angemessene Breite unterschiedlicher historischer und kultureller Konstellationen und Zeiträume abdecken? An welche Argumente und Fragen aus einer bestimmten Debatte können wir bei künftigen Themen anknüpfen?
Nebenbei bemerkt interessiere ich mich sehr für die Instrumente, die Musiktheoretiker*innen verwenden, um ihre Ideen zu veranschaulichen – etwa das Monochord und das Klavier. Die Möglichkeiten und Grenzen dieser Instrumente können uns eine Menge über den musikalischen Kosmos verraten, in dem die Theorien sich bewegen. Die diversen Theoretiker*innen stellen auch neue musiktheoretische Instrumente vor: die Oud aus der arabischen Welt und die chinesische Lü.
Die meisten der hier behandelten Themen und Überlegungen unterscheiden sich nicht grundlegend vom früheren Seminarplan. Im Bemühen, einen großen Zeitraum abzudecken, haben wir versucht, Zusammenhänge zu finden, wo immer dies möglich war.
Natürlich passen bestimmte Dinge, die wir in der konventionellen (nennen wir sie einfach heteronormativ, weiß, männlich) Geschichte der Musiktheorie voraussetzen, nicht in dieses Konglomerat. In dieser konventionellen Welt ist es möglich, Geschichte als eine Reihe von Dialogen zu schreiben, in denen spätere Theoretiker ihre Vorgänger kritisieren. In meinem alten Seminarplan war zu lesen, dass Helmholtz Ideen von Rameau aufgreift, dass Rameau sich mit Zarlino auseinandersetzt oder dass Zarlino sich auf Boethius bezieht. Es schien einigermaßen gesichert, dass jeder Theoretiker des alten Seminarplans mit den Werken der früheren Theoretiker vertraut war, zumindest mit bestimmten Werken der vorherigen Generation. Dieser Plan ist ohne Weiteres als ein Treffen der Köpfe in einem zeitlosen Raum lesbar, in dem heteronormative weiße männliche Theoretiker musiktheoretische Fragen erörtern und sie von allen Seiten beleuchten.
Bei einer Gruppe von Theoretiker*innen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, ist ein solches Zusammentreffen schwerer vorstellbar. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Johanna Kinkel Zhu Zaiyu gelesen hat oder sich seiner bahnbrechenden Arbeit im China der Ming-Dynastie überhaupt bewusst war. Al-Fārābī schenkt, soweit ich weiß, dem Werk von Ptolemais keine besondere Beachtung, ebenso wie Julián Carrillo, trotz Ausbildung in Deutschland, kein Licht auf Johanna Kinkel wirft. Jede Verbindung zwischen diesen Figuren muss erfunden und erfinderisch bleiben. Das heißt aber nicht, dass sie nicht nebeneinander existieren können – theoretisch.
Allerdings werden wir uns etwas mehr anstrengen müssen, um solche Zusammenhänge aufzudecken. Nicht immer dürfte es möglich sein, persönliche Verbindungen herzustellen. Aber diese Verbindungen bestehen auf einer diskursiven Ebene: hier wird Ptolemais – deren Werk wir nur schemenhaft durch Porphyr kennen – zu der Figur, durch die wir die Welt der antiken griechischen Musiktheorie erkunden. Daran anknüpfend ist es kein Problem, die Arbeit von Ptolemais mit der von Al-Fārābī in Beziehung zu setzen, der die griechischen Prinzipien im 10. Jahrhunderts n. Chr. in der islamischen Welt einführte (oder besser gesagt, im 3. Jahrhunderts im islamischen Kalender, um unsere Chronologie weiter zu dezentralisieren). Die berühmte Geschichte von Zhu Zaiyu, der 1584 in China die gleichschwebende Stimmung berechnete, einige Jahre bevor Simon Stevin die entsprechende Berechnung in Europa durchführte und dabei seine eigenen Methoden und Techniken einsetzte, bietet einen eigenen globalen Kontext.
3 Einige Konsequenzen
Wer eine diverse Geschichte der Musiktheorie schreiben will, muss die Grenzen dessen anerkennen, was eine einzelne Person unterrichten kann. In herkömmlichen Geschichten können die Standardsprachen Deutsch, Französisch, Italienisch, Latein und Altgriechisch vorausgesetzt werden; für meinen alten Seminarplan waren sie – im Idealfall – erforderlich. Es ist bemerkenswert, dass für eine Reihe der von uns behandelten Texte – trotz ihrer vielbeschworenen zentralen Bedeutung für das Fach – keine englischen Übersetzungen vorliegen.[8] Aus praktischen Gründen lasse ich meine Studierenden in Gruppen an den Übersetzungen arbeiten. In der Regel gibt es mindestens eine Person, die gut Französisch, eine andere, die gut Deutsch kann, gelegentlich auch jemanden mit Latein- oder Griechischkenntnissen. Gemeinsam werden so die meisten Texte in der Originalsprache entzifferbar. Manchmal arbeiten wir parallel zu den Übersetzungen auch die Originale durch, um möglichst viele Nuancen herauszukitzeln.
Ist etwas Vergleichbares auch für unseren diversen Seminarplan möglich? Von der Erwartung umfassender Sprachkenntnisse müssen wir uns realistischerweise verabschieden.[9] Natürlich ist mein Seminarplan immer noch recht gemäßigt und konzentriert sich auf Themen, die sich mit einigen zentralen Themen des europäischen Diskurses decken.[10] Wie wäre es, wenn z. B. Sanskrit, Zulu, Russisch, Nahuatl, Japanisch, Omaha-Ponca, Türkisch, Javanisch und Tuwinisch hinzukämen? (In Phil Ewells Blog ist noch viel mehr über Sprachkenntnisse zu lesen).
Manche mögen einwenden, dass gute historische Arbeit ohne gründliche Sprachkenntnisse unmöglich ist. Diese Ansprüche sind verständlich, aber wenn wir die globalen Anforderungen an Musiktheorie oder vielmehr ihre Aufgaben im Hinblick auf Diversity – beides ist nicht ganz dasselbe – ernst nehmen wollen, dann müssen wir realistisch sein. Wie der Historiker Jürgen Osterhammel, führend auf dem Gebiet der Globalgeschichte und Verfasser mehrerer monumentaler Bände zur Weltgeschichte, ausführlich dargelegt hat, ist es schlicht unmöglich, gleichzeitig mit Primärquellen in mehreren Sprachen zu arbeiten. Der Rückgriff auf verlässliche Übersetzungen ist eine Voraussetzung für eine vielfältigere GdM. Ein globaler und/oder diverser Ansatz muss den Mut haben, sich von alten sprachlichen Anforderungen zu lösen. Das bedeutet nicht, dass die Arbeit minderwertig ist. Es bedeutet nur, dass wir unsere Prioritäten anders setzen.
Abgesehen von den Sprachen würde ich mir etwas vormachen, wenn ich behaupte, dass ein diverser Seminarplan auf die gleiche Weise unterrichtet werden kann wie der alte. Wir wissen viel weniger über Ptolemais als über Boethius; Material über Johanna Kinkel ist viel schwieriger zu finden als über Helmholtz. Zhu Zaiyu und Al-Fārābī haben eine beträchtliche Forschungsliteratur angehäuft, allerdings meist innerhalb ihrer eigenen Sprachgruppen. (Es gibt derzeit im Englischen keine Übersetzungen von Zhu Zaiyu oder Al-Fārābī, allerdings arbeitet Alison Laywine an einer englischen Übersetzung von al-Kitāb). Um diese Figuren zu lehren, ist viel mehr Vorarbeit nötig, viel mehr Kontextualisierung, viel mehr Verlass auf die vorhandene Sekundärliteratur (von der manche, nun, nicht ganz auf dem neuesten Stand ist) und, offen gesagt, viel mehr fundierte Spekulation. Vermutlich erfordert es ein gewisses pädagogisches Feingefühl, da die Studierenden eine große Menge an Material zusammenfassen müssen. Es dürfte ebenso erforderlich sein, die Karten auf den Tisch zu legen und zu erklären, dass ich nicht die volle Kontrolle über das Material habe und mich – wie die Studierenden – auf das Material verlassen muss, das mir zur Verfügung steht. Wir werden diesen Stoff im wahrsten Sinne des Wortes alle gemeinsam lernen.[11]
In der Tat könnte dieses Unterrichtsmodell eine Alternative zu Osterhammels individueller Synthese einer Unmenge von (Sekundär‑)Material darstellen. Sein Vorbild, das die individuelle Autorenschaft der traditionellen humanistischen Wissenschaft beibehält, birgt die Gefahr des Solipsismus. Alternativ lassen sich die vielen verschiedenen Spezialisierungen innerhalb von Forschungscommunities nutzen, in denen jede*r eigene Gedanken in ein Projekt einbringt.[12] Veröffentlichungen könnten durchaus Seminardiskussionen ähneln.
4 Pro und Kontra
Ein möglicher Kritikpunkt an dem von mir hier skizzierten Entwurf betrifft die Struktur, die sich immer noch weitgehend an den Belangen einer traditionellen westlichen GdM orientiert, auch wenn der Seminarplan mit Frauen und PoC bevölkert ist. Das ist legitim: Die Auswahl der Figuren erlaubt noch immer eine zusammenhängende Erzählung, die aber – mehr oder weniger – nur vor dem impliziten Hintergrund der Figuren aus dem weißen männlichen Seminarplan möglich ist. Wenn wir uns zum Beispiel mit Ptolemais beschäftigen, müssen wir uns mit der umfassenderen harmonikalen Tradition auseinandersetzen; wenn wir Johanna Kinkel erforschen, müssen wir auch Vorstellungen chromatischer Beziehungen studieren. In der Story, die der neue Seminarplan skizziert, lernen die Studierenden also immer noch etwas über Modi und Tetrachorde, über die Notwendigkeit und die Probleme der Temperierung, die Fragen der Harmonie und der Tonalität usw.[13]
Ein Seminarplan, der Figuren kuratiert, die für bestimmte vorgegebene Fragen stehen – ist das nicht Symbolpolitik in Reinform? Pädagogik lässt sich nicht auf eine Diversity-Checkliste reduzieren, die nur jene Hierarchien und Hegemonien reproduziert, die unter der Oberfläche der Erzählung lauern.[14] Aber in diesem Seminarplan geht es um mehr: Selbst wenn wir andere Personen auswählen, um eine ähnliche Geschichte zu erzählen, verändern wir tatsächlich die Geschichte selbst: Wir verorten die Fragen zwischen verschiedenen kulturellen Knotenpunkten und eröffnen neue Verbindungen, die zuvor nicht zugänglich waren.
In meinem alten Syllabus wurde die Geschichte der gleichschwebenden Stimmung beispielsweise durch Daniel Chuas Drahtseilakt erzählt, der Vicenzo Galilei und Max Weber zusammenbringt. Aber es gibt keinen Grund, warum Zhu Zaiyu nicht auch dazu dienen könnte, die Berechnung der gleichschwebenden Stimmung zu erklären, und zwar in einem musikalischen Kontext, der sich nicht mit dem Problem der Dreiklangsharmonik befasst. Dieser Ansatz würde alle möglichen interessanten Fragen aufwerfen: Wie hängen bestimmte Konzepte mit unterschiedlichen musikalischen Kontexten zusammen? Welches Problem genau löste Zhu Zaiyus gleichschwebende Stimmung im Kontext des Yayue der Ming-Dynastie?
Wenn die Aufgabe darin besteht, die Studierenden für andere Möglichkeiten zu öffnen, dann ist die Vermittlung anderer kultureller und musikalischer Kontexte von Vorteil. Wenn die Studierenden lernen, wie die arabische und persische Musiktheorie die Oud oder Tanbur einsetzt, erfahren sie nicht nur, wie die griechische Tradition von der islamischen Welt übernommen wurde, sondern sie erhalten auch einen Anknüpfungspunkt, auf dem spätere Studien zur südwestasiatischen Musik[15] in einem anderen Kontext aufbauen können. Wenn die Studierenden mit Johanna Kinkel Chopin über enharmonische Mikrotöne kennen lernen, hören sie mit neuen Ohren (und neuer Politik) ein Repertoire, das ihnen vielleicht allzu vertraut erschien. Wenn die Studierenden Julián Carrillos Vision von der Zukunft der Musik kennen lernen, erfahren sie etwas über sich wandelnde Vorstellungen von Konsonanz und Dissonanz und über die Vorstellungen von musikalischem Fortschritt. Die Schönberg-Geschichte ist auch hier wichtig, aber – und das ist entscheidend – sie ist nicht die einzige.
Auf diese Weise manifestiert sich Diversität und breitet sich aus. Es geht hier nicht um ein Lippenbekenntnis zu akademischen Moden, sondern darum, tatsächlich eine Struktur zu schaffen, die alte und neue Anknüpfungspunkte bietet, und zwar so, wie es der alte Seminarplan nicht zuließ.
Ist es ein Problem, dass die hier vertretenen Autor*innen größtenteils aus den bedeutendsten Kulturen der Welt stammen, wie selbst der verstockteste Verteidiger europäischer Kultur zugeben würde? Auch wenn der Syllabus einen bedeutenden mexikanischen Komponisten-Theoretiker enthält, mehrere zentrale Minderheitengruppen der zeitgenössischen amerikanischen Kultur sind nicht vertreten: Indigene Amerikaner und Afroamerikaner. (Darauf bezog sich die Anspielung, dass eine globale Musiktheorie nicht dasselbe ist wie eine diverse). Es handelt sich hier um ein ernsthaftes Anliegen, das berücksichtigt werden sollte. Ich sollte mich stärker darum bemühen, mehr afroamerikanische Wissenschaftler*innen einzubeziehen – ein Problem, das Phil Ewell ausführlich erörtert hat. Amerikanische Ureinwohner*innen stellen, wie so oft, eine eigene, möglicherweise hartnäckigere Herausforderung dar, die unbedingt Aufmerksamkeit verdient. Bisher habe ich noch keine befriedigende Lösung gefunden, und ich wäre daran interessiert, von anderen Versuchen zu hören.[16]
Der vielleicht wichtigste Aspekt dieses Gedankenexperiments ist, zumindest für mich, dass wir die Beziehung zwischen Menschen und Ideen in der Geschichte der Musiktheorie überdenken müssen. Ich scherze manchmal, dass ich Musiktheorie lehre, weil ich mich nicht sonderlich für Menschen interessiere. Das ist meist ein Lacher, und es mag ein Körnchen Wahrheit darin stecken. Aber mir ist klar, dass dieser Witz nicht ganz harmlos ist, denn das bekundete Desinteresse an Menschen bedeutet zu akzeptieren, dass unsere etablierte Geschichte weiterhin von heteronormativen weißen Männern bevölkert wird, was irgendwie als neutral durchgehen kann. Phil Ewell hat uns daran erinnert, dass diese Gleichgültigkeit in der Praxis auf eine stillschweigende Diversitätsquote hinausläuft – sie liegt derzeit bei 0 %. Nicht alle Musiktheoriestudierenden können sich den Luxus leisten, Ethnien- und Geschlechter-Verhältnisse mühelos zu ignorieren.
Für meine Studierenden wünsche ich mir, dass auch sie die Chancen eines diversen Syllabus erkennen. Ich denke hier insbesondere an ungenutztes Potenzial. Die englischsprachige Sekundärliteratur, etwa zu Zhu Zaiyu, ist noch ziemlich lückenhaft, ganz zu schweigen von Johanna Kinkel, die selbst in Fachkreisen nahezu unbekannt ist. Es gibt also viel Spielraum für spannende Dissertationsthemen. Ein weiterer Vorteil ist, dass diese Figuren mit zunehmender Forschung von selbst mehr in den Mittelpunkt rücken. Es entstehen neue Knoten- und Anknüpfungspunkte. Mit einem Wort, unsere Geschichte beginnt sich zu verändern.
5 FAQs
Welche Gefahren birgt dieser Plan? Was, wenn er schlecht unterrichtet wird?
Für die meisten von uns ist dies zweifellos Neuland, und ja, es gibt einige Unwägbarkeiten, die selbst erfahrenen Lehrer*innen Angst machen können. Bis zu einem gewissen Grad müssen wir alle bereit sein, uns ins Unbekannte zu stürzen. Die meisten von uns sind dafür nicht ausgebildet. Ich denke, es ist völlig legitim, Hilfe zu suchen, wo wir können. Laden Sie Expert*innen per Zoom in Ihre Klasse ein. Erforschen Sie gemeinsam Neuland. Selbst das gemeinsame Durcharbeiten schwieriger Passagen und das gemeinsame Erforschen dieser Schwierigkeiten bietet Gelegenheit für lehrreiche Momente. Lernen Sie, gute Fragen zu formulieren und gemeinsam nach Antworten zu suchen. Ein altes Sprichwort lautet: Der Weg ist das Ziel.
Und ja, es können durchaus tückische Klippen auftauchen. Ein Beispiel, auf das ich bei der Planung dieses Kurses gestoßen bin: Meist endete mein Entwurf für einen Seminarplan mit dem US-amerikanischen Experimentalphysiker Henry Cowell – ich hatte gehofft, zumindest einen Vertreter der LGBTQIA+-Community einbeziehen zu können, und hatte mich schon lange für Cowells theoretische Ideen interessiert. Cowell (1897–1965) lebte vor gar nicht allzu langer Zeit, als Abweichungen von der Heteronormativität kriminalisiert wurden. Im Jahr 1936 wurde er nach Paragraph 288a des kalifornischen Strafgesetzbuchs verhaftet.[17] Seine loyale Frau Sidney Robertson Cowell, die er bald nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis heiratete und die sein Erbe nach seinem Tod verwaltete, äußerte sich nur ungern zu diesem Aspekt seines Lebens.
Aber je mehr ich versuchte, mir vorzustellen, wie diese spezielle Diskussion in einer Unterrichtssituation aussehen würde, desto mehr kam ich zu dem Schluss, dass Cowell in diesem Szenario nicht die richtige Figur war. Die Begriffe, die wir heute verwenden, lassen sich nicht ohne Weiteres auf die Rechtslage im frühen 20. Jahrhundert übertragen. Cowell wurde wegen Oralsex angeklagt, der andere Beschuldigte war ein Siebzehnjähriger. Eine Diskussion, die Unterschiede zwischen einer modernen Sichtweise auf schwule Identität und dem, was heute als statutory rape – also sexueller Missbrauch von Jugendlichen – gilt, analysiert, könnte unter Umständen interessant sein, birgt aber in diesem Zusammenhang zu viele Risiken. Wenn die Diskussion dazu führen würde, das falsche Vorurteil zu bestätigen, dass Homosexualität und Päderastie irgendwie miteinander in Zusammenhang stehen, dann wäre diese Sitzung spektakulär nach hinten losgegangen. Ich habe andere Musiktheoretiker*innen in Betracht gezogen, die ein weniger widersprüchliches Bild vermitteln könnten. Aber am Ende habe ich mit Bedauern beschlossen, dass mein Seminar vorerst ohne einen Aspekt der LGBTQIA+-Geschichte auskommen muss. Vielleicht sind andere hier erfolgreicher.
Für wen genau ist dieser Kurs gedacht?
Etwas pointierter gefragt: Basieren die Kriterien für die Aufnahme in den Kurs auf den INS-Richtlinien des amerikanischen Immigration and Naturalization Service (INS), also auf Bevölkerungsquoten? Die Antwort lautet – ohne Übertreibung – bis zu einem gewissen Grad ja. Die Aufgabe der Repräsentation, die hier im Vordergrund steht, ist durch die besondere ethnische Zusammensetzung der heutigen US-Gesellschaft geprägt. Es gibt hier eine unbestreitbare staatsbürgerliche Komponente. (Die oben genannten Probleme um Cowell haben ebenfalls gezeigt, dass die Themen von den Debatten des 21. Jahrhunderts bestimmt werden).
Der Aufbau des Seminars mag nicht genau passen, doch ist es nützlich, die Geschichte der Musiktheorie innerhalb anderer Parameter zu betrachten. Dies ist der feine Unterschied zwischen den Zielen einer globalen Sichtweise und eines diversen Seminarplans, den ich hier vorschlage. Es ist weniger wichtig, dass der Plan alle Weltkulturen abdeckt, als dass sich diverse Gruppen von Studierenden in diesen Figuren wiederfinden – oder, andersherum, dass die Geschichte der Musiktheorie keine ausschließliche Angelegenheit weißer Männer ist.
Anschlussfrage: Wenn es hier um Staatsbürgerkunde geht, warum geht man dann nicht den Weg der tatsächlichen Repräsentation weiter? Wo sind die Afroamerikaner und die amerikanischen Ureinwohner*innen?
Hier stellt der Seminarplan, wie die meisten Lehrpläne, einen Kompromiss dar. Syllabi versuchen zumeist, eine mehr oder weniger zusammenhängende Geschichte zu erzählen. Ich habe schlicht keine Materialien gefunden – und ich muss wohl bis zu einem gewissen Grad auf Unwissenheit plädieren –, die diese Kulturen so einbeziehen, dass wir quasi-kohärent erzählen können. Soweit ich beurteilen kann, gibt es andere Möglichkeiten, wie diese speziellen Fragen, die sich für Afroamerikaner*innen oder indigene Amerikaner*innen stellen, besser behandelt werden können. Ich bin gespannt auf andere Ideen. Schließlich sollte dies im Idealfall ein gemeinsames Projekt sein.
Sind fünf Kulturen in einem Semester nicht ein bisschen viel? Ist das nicht oberflächlich?
Ja, vermutlich. Die Reise, die in diesem Seminar unternommen wird, hat definitiv einen Hauch vom Touristenmantra: „Heute ist Dienstag, also müssen wir in Paris sein“. Andererseits würde ich behaupten, dass dies ein allgemeines Problem des US-amerikanischen Bildungssystems ist. Mir jedenfalls scheint, dass diese Kritik auch auf die meisten Studiengänge zur Geschichte der Theorie zutrifft, unabhängig davon, ob sie kulturell divers sind oder nicht.
Es lohnt sich, daran zu denken, dass die Fünf-Klassiker-Struktur, die ich in meinem Gedankenexperiment gewählt habe, das Ergebnis der besonderen Beschränkungen unseres Programms ist. Hätten wir zwei (oder sogar vier) Semester zur Verfügung, würde der Seminarplan deutlich anders aussehen. Andere Studiengänge haben in dieser Hinsicht vielleicht mehr Flexibilität.
In jedem Fall sollten wir jede Hilfe in Anspruch nehmen, die wir bekommen können. Bei der Umsetzung würde ich auf jeden Fall Fachleute aus anderen Abteilungen meiner Einrichtung oder Gastdozent*innen über Zoom einladen, um uns bei bestimmten Figuren oder Zusammenhängen zu helfen.
Das ist eine große Verantwortung. Sind wir dazu bereit?
Um das Offensichtliche gleich vorwegzunehmen: Diversität und Inklusivität dürfen nicht einfach proklamiert werden, um dann wieder zum Tagesgeschäft überzugehen. Das wäre ein sicherer Weg zum Scheitern. Die Verantwortung liegt in der konkreten Umsetzung solcher Ideen. Die nächste Antwort enthält einige weitere Vorschläge zu diesem Thema.
Müssen wir das tun? Welche anderen Modelle könnten funktionieren?
Ähnlich wie bei der vorherigen Frage muss sich niemand gezwungen fühlen, dem zu folgen. Dieser Entwurf ist ja momentan nichts weiter als ein Gedankenexperiment. Ich glaube, dass dieser Seminarplan, so oder so ähnlich, für unser Programm ganz gut funktionieren würde. Das heißt aber nicht, dass dies auch für andere Studiengänge gilt. Der Schwerpunkt auf den „Fünf Klassikern“ ist zum Beispiel nicht sakrosankt (es sei denn, man ist orthodoxer Konfuzianer). Dies war lediglich eine Grundlage, auf der dieser alternative Plan entworfen werden konnte.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, eine diversere GdM umzusetzen. Ich weiß, dass es bereits einige spannende Seminare gibt, die Elemente der Diversität enthalten. Manche Leute werden zum Beispiel befürchten, dass die Konzentration auf fünf Randfiguren verwirrt oder überwältigt. Sie könnten meinen, dass die Aufnahme eines einzigen nicht-europäischen Theoretikers genug Kontrast bietet. Und sie könnten Recht haben. Schon eine einzige Figur, die die Vorherrschaft der weißen Männer durchbricht, wird diverses Denken anregen. Oder sie könnten das gesamte Semester auf bestimmte Aspekte einer GdM konzentrieren, die zum kulturübergreifenden Denken einladen. Die Frage der Stimmung in verschiedenen Kulturen und zu verschiedenen Zeiten könnte ein solcher Blickwinkel sein.
Zentral bei all dem ist, dass es sich um ein gemeinschaftliches und ergebnisoffenes Projekt handelt. Meine Perspektive ist, wie die jeder einzelnen Person, begrenzt. Andere haben gewiss Ideen, die mir nicht in den Sinn gekommen sind. Ich teile diesen Entwurf mit der Fachgemeinschaft in der Hoffnung, dass er zu weiteren Ideen anregt und eine breitere Diskussion darüber anstößt, wie Ideen zu Vielfalt und Inklusion in unserem Unterricht der GdM umgesetzt werden können.
Zum Autor: Alexander Rehding ist Professor an der Harvard University.
[1] Die rechtsgerichteten Medien National Review und FOX News unterstützen dabei die Zeitschrift unter dem Banner der freien Meinungsäußerung, während sich die New York Times eine zunächst eher ausgewogene Darstellung bemühte, wobei allerdings ihr konservativer Kolumnist Timothy McWhortle diesen Fall später als Beispiel für die „illiberale Linke“ anführte. Die Society for Music Theory verurteilte den Rassismus des Journals of Schenkerian Studies aufs schärfste.
[2] Zur Vorherrschaft dieser Sprachen hat sich auch Ewell kritisch geäußert.
[3] Dieser Blogpost wäre nicht möglich gewesen ohne die vielen wertvollen Gespräche und den Austausch, die dem Schreiben vorausgingen und es begleiteten. Mein besonderer Dank gilt Will Cheng, Phil Ewell, Roger Grant, Drew Hicks, Lester Hu, Nathan Martin, Carmel Raz, Siavash Sabetrohani und Danny Walden sowie den Studierenden meines Kurses Music 220: Geschichte der Musiktheorie im Frühlingssemester 2020.
[4] An dieser Stelle möchte ich Henry Klumpenhouwer meine Reverenz erweisen, der mir eine Struktur mit fünf Büchern vorschlug.
[5] Ich danke Lester Hu für den Hinweis auf den ironischen Umstand, dass ein sechster, verschollener konfuzianischer Klassiker ein Band über Musik war.
[6] Historiker*innen haben hier den nützlichen Begriff „Backshadowing“ geprägt; siehe Michael Bernstein, Foregone Conclusions: Against Apocalyptic History (Berkeley: University of California Press, 1994).
[7] Ich danke Danny Walden, der mich mit Johanna Kinkel, der Komponistin und Musiktheoretikerin im Londoner Exil im Kreis um Karl Marx, und ihrem bemerkenswerten Aufruf zur Emanzipation des Vierteltons bekannt gemacht hat!
[8] Wenn ich schon dabei bin: Calvin Bowers Boethius-Übersetzung ist lange vergriffen und kostet antiquarisch etwa 500 Dollar. Yale University Press: Wenn Sie das hier lesen, ziehen Sie bitte in Erwägung, dieses Buch neu aufzulegen, vielleicht als Print on Demand.
[9] Dies soll keinesfalls als Aussage gegen Fremdsprachkenntnisse verstanden werden. Ich spreche hier speziell von einem Unterrichtsszenario (oder noch spezifischer von der Einschränkung „umfassend“). In der Tat macht diese Situation den Bedarf an veröffentlichten Übersetzungen von höchstem wissenschaftlichem Niveau noch größer. Parallel dazu hoffe ich, dass wir ein neues goldenes Zeitalter wissenschaftlicher Übersetzungen musiktheoretischer Texte einläuten, wie es die anglo-amerikanische Musiktheorie in den 1990er Jahren erlebt hat.
[10] Ein Aspekt der Mäßigung ist das Ausmaß, in dem Begriffe wie „Geschichte“, „Theorie“ oder „Musik“ unangefochten bleiben.
[11] 2012 bot ich einen strukturell vergleichbaren Kurs an, der sich mit der Rezeption chinesischer Musik in der Aufklärung befasste und in einer Gemeinschaftsausstellung gipfelte. Dabei war ich ebenso Student wie die Teilnehmer*innen, da ich vor Beginn des Semesters nicht wusste, wo genau wir landen würden. Es war eine wertvolle Erfahrung für alle Beteiligten.
[12] Ich danke Lester Hu dafür, dass er mich in dieser Richtung weitergebracht hat. Es gäbe hier noch viel mehr zu sagen. Unsere derzeitigen akademischen Institutionen sind z. B. normalerweise darauf ausgerichtet, Anreize für individuelle wissenschaftliche Beiträge zu schaffen und diese gegenüber Gruppenarbeit bevorzugt zu belohnen.
[13] Mein Kollege David Damrosch aus der Literaturwissenschaft würde dies als „Gegenkanon“ bezeichnen. Er weist darauf hin, dass die Hauptprotagonisten des traditionellen Kanons von der Diversifizierung des Feldes relativ unberührt bleiben und in der Tat einen „Hyperkanon“ bilden. (Das wäre unser Schönberg-Boethius-Plan.) Vielmehr, so fährt er fort, ist es der „Schattenkanon“ der Nebenfiguren des traditionellen Kanons (die Marchettos, Morleys und Marpurgs), die in diesem Prozess an kulturellem Kapital verlieren. Siehe „World Literature in a Postcanonical, Hypercanonical Age“, in: Haun Saussy (Hrsg.), Comparative Literature in an Age of Globalization (Baltimore: Johns Hopkins University Press, 2004), 43–53.
[14] Um es noch deutlicher zu sagen: Es besteht immer die Gefahr der McDonaldisierung, der Konstruktion eines Kanons aus der Perspektive der amerikanischen Hegemonie, ein Akt der Kolonisierung und nicht der Globalisierung. Siehe Djelal Kadir, „Comparative Literature in an Age of Terrorism“, in Saussy (Hrsg.), Comparative Literature, 68–77. Vielen Dank an Lester Hu für den Hinweis auf diesen anregenden Artikel.
[15] Mein Dank geht an Siavash Sabetrohani, der mich auf die Probleme mit der Standardbezeichnung „Nahost“ hingewiesen hat. Ich folge seinem Rat und verwende einen angemesseneren geografischen Begriff. Weil diese Bezeichnung (noch) nicht sehr gebräuchlich ist, erscheint es sinnvoll, diese kurze Erläuterung hinzuzufügen.
[16] Laufende oder sehr aktuelle Arbeiten wie Danny Waldens provokative Arbeit über die frühe Generation vergleichender Musikwissenschaftler [Paywall], die mit amerikanischen Ureinwohner*innen arbeiten, oder Jennifer Bains Arbeit über die Übertragung von Gesängen bei den Mi’kmaw bieten hier vielversprechende Ansatzpunkte.
[17] Siehe Michael Hicks, „The Imprisonment of Henry Cowell“, in: Journal of the American Musicological Society 44 (1991), H. 1, 92–119.