R. Murray Schafer, The Soundscape. Our Sonic Environment and the Tuning of the World

Es gibt Bücher über das Universum des Klingenden, die auf alles anwendbar zu sein scheinen, was in der menschlichen Wahrnehmung tönt, rauscht, wispert oder stottert: von der komponierten Musik über den Wind bis zu den Geräuschen der Motoren. Eine solche Schrift über den Klang und die Hörenden, die einen derart weiten Geltungsbereich beansprucht, stellt R. Murray Schafers The Soundscape: Our Sonic Environment and the Tuning of the World aus dem Jahr 1977 dar. Die Ausführungen widmen sich laut Titel den Soundlandschaften, nach denen unsere Welt gestimmt ist („the tuning“). Der Komponist und Klangforscher Schafer präsentierte damit die Summe der Feldforschungen, die im Rahmen des von ihm geleiteten „World Soundscape Project“ seit den späten 1960er Jahren in unterschiedlichen geographischen Kontexten durchgeführt wurden. Ausgangspunkt der Initiative, so ist auf der Projekt-Homepage zu lesen, war Schafers Abneigung gegen die Lärmbelästigung an seiner Wirkungsstätte Vancouver und sein Versuch, Hörende für die qualitative Verfassung ihrer alltäglichen akustischen Umgebungen zu sensibilisieren. Der Anlass der heute zum Klassiker der Sound-Forschung avancierten Publikation lag also in der persönlichen Betroffenheit ihres Autors und der Anstrengung, dem störenden Lärm der Großstädte mit einer neuen Kultur des Hörens zu begegnen. Allein durch diese Genese steht The Soundscape unter den Vorzeichen einer ‚situierten Interpretation‘,[1] einer Art von auktorialer Befangenheit, die mit einem wissenschaftlichen Anspruch, der der möglichst wertneutralen Beschreibung objektiver Tatsachen gilt, ein interessantes Spannungsverhältnis eingeht.

Schafer trägt im Buch reichhaltiges Material zusammen und führt in ein großes Spektrum an Umgebungsklängen ein, das von akustischen Sphären in ländlichen Bereichen bis hin zum Sound der Industrialisierung und Post-Industrialisierung reicht. Er entwickelt in graphischen Darstellungen und erfahrungsbasierten Exkursen ein Vokabular, mit dem das ungeheuer komplexe Bezeichnungs- und Verweissystem von Sounds in noch nie dagewesener Detailgenauigkeit der reflektierenden Sprache zugänglich gemacht wurde. Eine Reihe an Termini aus seinen Ausführungen, etwa ‚noise pollution‘ oder ‚ambient sound‘, gehören seither sogar zur Alltagssprache und selbstverständlich auch zum analytischen Instrumentarium der Sound Studies, deren Erkenntnisziele sich nicht auf Musik fokussieren, sondern dem übergeordneten Bereich des Sonischen gelten, für das sowohl akustische als auch ästhetische Komponenten des Klingenden eine Rolle spielen. Demgegenüber tut sich die Musikwissenschaft, die mit ‚Werken‘ umgeht und dabei die Poetologie und Wirkung von klingenden Artefakten untersucht, mit solchen Begrifflichkeiten immer noch schwer. Schafer deklariert zwar auch artifizielle Formen von Musik zum Bestandteil der „world soundscape“,[2] argumentiert dabei jedoch nahe an der Realität sowie den unmittelbar spürbaren, körperlichen und sozialen Auswirkungen des Klingenden entlang und kann so die für Kunstmusik zentrale Hürde des Symbolischen nicht nehmen. Kunstmusik und mit ihr Musikwissenschaft finden sich traditionell nicht mit dem Abtasten des akustisch Auffindbaren ab, sondern begehen den entgegengesetzten Weg der Mimesis. Mimesis stellt Distanz zum Realen her. Nachahmung in der Tradition der Kunstmusik, wie sie konzeptuell in Europa in der Frühen Neuzeit aufkam, gilt in erster Linie wohl dem Unhörbaren, das es im Komponieren erst hörbar zu machen gilt: Wahrnehmungen und Gefühle, Identitäten und abstrakte Modellierungen von Welt. 

Diesen Konflikt zwischen dem Buchstäblichen und dem Symbolischen des Sounds trägt Schafer aus. Dabei entpuppt sich seine Theorie der Soundscape auf den zweiten Blick als weniger positivistisch, als es zunächst erscheint. Der Begriff der ‚Stimmung‘, der mit dem Titel im Zentrum steht, alludiert offenkundig an ein harmonikales Klangverständnis, in dem das Unhörbare, verstanden als grundlegende Gestimmtheit der Welt, den Ton angibt. Das Ansinnen des Autors, Aufklärung über das „Tuning of the World“ zu leisten, ist als Aktualisierung eines pythagoreischen Musikdenkens zu verstehen, das nach 1950 auch unter den Komponisten der europäisch-amerikanischen Avantgarde eine neuerliche Konjunktur erlebte. Schafer selbst kommt in der Einleitung zum Buch auf diese quadriviale Traditionslinie zu sprechen, in der es darum gehe, die Welt gestaltend zu harmonisieren – „to harmonize the world through acoustic design.“[3] Seine Klangforschung versteht er dementsprechend als „reaffirmation of music as a search for the harmonizing influence of sounds in the world about us.“[4] Musik, für Schafer eine Metonymie des Sounds, wird zum symbolischen Medium einer Spekulation, einer Suche nach der grundlegenden Harmonie, die die Gesundheit des Einzelnen und das soziale Zusammenleben in einer Gesellschaft stabilisieren und verbessern kann.

Die dem Pythagoreismus eigene antidiskursive Harmonisierungstendenz, die insbesondere das musikalische Mittelalter und die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts nachhaltig prägte, hat das Erhabene und Hässliche marginalisiert. Auch Schafer verzichtet im Ursprungsdokument der Soundscape-Forschung darauf, zwischen Klang und Noise, den symbolischen Korrelaten des Schönen und Guten sowie des Erhabenen und Abjekten, gleichwertig zu vermitteln und bekennt sich damit implizit zu seiner Sozialisation in institutionalisierten akademischen Diskursen über Kunstmusik, die ihn als Pianist und Komponist prägten. Protagonist*innen der historischen Sound Installation, Maryanne Amacherund Max Neuhaus etwa,[5] die in der Arbeit mit ‚environmental sounds‘ ebenfalls akustische Umwelten erforschten, trugen den Gegensatz des Ästhetischen aus und komponierten mit dem Lärm als Symbol einer raumgreifenden Apparatisierung von Welt. Bei Schafer allerdings wird der Bereich des Ästhetischen zugunsten des Bioethischen entschärft: Die optimale Soundscape ist für ihn eine, in der die umfassende Selbstsorge der Hörenden möglich wird.

Erkennbar wird im Verlauf des Buches die deutliche Bevorzugung von natürlichen Klängen und ländlichen Soundscapes gegenüber der lärmenden Klangkulisse der Großstadt. Schafers Einteilung der Lautsphären in eine Hi-Fi-Sphäre, in der sich Sounds vor zurückgenommenem Klanghintergrund als distinkte Ereignisse ereignen, und eine von Noise überladene Lo-Fi-Sphäre, die ihre Transparenz und Durchhörbarkeit einbüßt, folgt dieser Neigung. Interessant ist dabei nicht nur der Umstand, dass die Essentialisierung von klanglicher Natürlichkeit und Reinheit in Kontrast zu einer Verherrlichung des technologischen Fortschritts steht, die die Klangforschung des 20. Jahrhunderts seit dem musikalischen Futurismus kennzeichnete; sowie die Tatsache, dass Schafers Plädoyer für Lokalität der digitalen Logik globaler ubiquitärer Vernetzung heutzutage radikal entgegensteht. Auffallend ist auch der Klassismus, der seiner Argumentation zugrunde liegt und The Soundscape als ein Buch erscheinen lässt, das aus der Gegenwart gefallen ist. In einem sechsminütigen Kurzfilm aus dem Jahr 2009 mit dem Titel Listen ist Schafer in privater, ländlicher und menschenleerer Umgebung zu sehen. In dieser für ihn annähernd idealen Soundscape, in der lediglich aus der Ferne Verkehr, ansonsten jedoch vor allem der Gesang von Vögeln zu hören ist, ruft der Klangforscher zum bewussten Hören und zur Reduktion des Lärms und der Klänge auf. Sein Appell, den Klang der Welt – „a whole musical composition“ – zu harmonisieren, geschieht aus der überlegenen Perspektive eines autonomen Außenseiters, der auf die sozioökonomische Funktion der lärmenden Großstädte, indem sie für viele Stätten der Arbeit, des Lebens und Überlebens sind, in diesem Moment nicht zurückgeworfen ist.

Vielleicht sind der appellative Charakter und der Anwendungsbezug von The Soundscape, die mit dem Neologismus ‚acoustic ecology‘ zum Tragen kommen, heute, in einer Blütezeit des ökologischen Denkens, aktueller denn je. „Ecology“, so Schafer, „is the study of the relationship between living organisms and their environment. Acoustic ecology is therefore the study of sounds in relationship to life and society.“[6] Eine akustische Ökologie untersucht jenen wechselseitigen Kommunikationsprozess zwischen Lebewesen und klingender Umwelt, den die Kybernetik ‚Feedback‘ nennt, und studiert dabei nicht nur den Bereich des physiologisch Wahrnehmbaren, sondern sucht auch nach seinen kulturellen und biologischen Bedeutungen. Wie wirkt sich der sanfte, aber kontinuierliche Regen an der Pazifikküste Nordamerikas auf das Zeitgefühl der dort ansässigen Menschen aus? Welche kommunikative Aussage treffen Kirchenglocken? In welcher Hinsicht strukturieren die Rhythmen der Maschinen das Leben in der Stadt? Hinter solchen soundökologischen Erwägungen steht die evolutionstheoretische Prämisse, dass das Leben in der Umwelt Anpassungsleistungen voraussetzt, aber auch das strategische Ziel einer Veränderung. Was der Biologe und Philosoph Georg Toepfer für das ökologische Denken insgesamt feststellt, trifft auch auf dasjenige Schafers zu: „[I]m Sinne des langfristigen Überlebens […] führt das ökologische Wissen unmittelbar normative Implikationen mit sich.“[7]

Dem normativ-anwendungsorientierten Antrieb von Schafers Klangforschung steht in The Soundscape ein Impuls gegenüber, der die akustische Lebenswelt ästhetisiert und metaphorisiert. Anschaulich wird dies etwa in der Beschreibung des ortsspezifischen Klangraums des Renaissance-Gartens der Villa d’Este in Tivoli. Vor den Toren Roms, in dem mit zahlreichen Brunnen ausgestatteten Außenbereich der Villa, entdeckte Schafer den Modellfall einer geographisch und kulturell distinkten Klanglandschaft, die für ihn sogar die ästhetische Erfahrungsqualität eines Theaters annahm. Dem „théâtre d’eau“,[8] das die kinetisch-gestische Eloquenz bewegten Wassers erzeugt, widmete er einen eigenen Abschnitt seines Buches. Mit dieser Tendenz zur Ästhetisierung von nicht explizit kunstwerkhaften audiblen Artefakten werden Schafers Überlegungen anschlussfähig an die für das 20. Jahrhundert folgenreiche, pragmatische ästhetische Theorie John Deweys. Dewey stellt in Art as experience (1934) die Trennung zwischen ästhetischer Kunstwelt und nicht-ästhetischer Lebenswelt in Frage. Sein Kerngedanke ist der, dass sich die Sphäre des Ästhetischen von der Qualität eines immersiven Wahrnehmens her definiert, nicht vom institutionellen Rahmen der Kunst. Die Erfahrung von Schafers Soundscape duldet, mit Dewey gesprochen, kein Auf-hören „wegen äußerer Unterbrechungen oder innerer Lethargie“.[9] Die Suche nach dem nicht-korrumpierten Sound verlangt den Hörenden eine Erfahrung ab.

Vor allem durch diesen erfahrungsbasierten Zugriff auf den Klang passt Schafers Buch zu jüngeren musikwissenschaftlichen Diskursen. Mit der im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts nicht zu übersehenden methodischen Weitung des forschenden Blicks auf den Kontext des Klingens, der zusätzlich zum Notentext die Räume und kommunikativen Potentiale des Sounds fokussiert, greifen musikästhetische Ansätze direkt und indirekt die zentrale Message aus The Soundscape auf, wonach Klanglandschaften Beziehungsformen zwischen Hörenden und ihren Umwelten darstellen. In der Erforschung dieser Feedback-Prozesse auch in Vorgängen des klassischen Komponierens und Musizierens liegt zukünftig eines der Potentiale einer spezifisch musikwissenschaftlichen Ökologie. Ein Wiederlesen von Schafers Text aus der heutigen Perspektive klärt allerdings nicht nur über diese ästhetische Nachhaltigkeit seines Ansatzes auf, sondern ebenso auch über eine gerade für die Musikwissenschaft von Kunstwerken neuralgische und offensichtlich nicht mehr fruchtbare Idee. Die idealisierende Suche nach sonischer Stimmigkeit, die sowohl Schafers Ausführungen als auch die herkömmliche Analytik der Musikwissenschaft prägt, indem sie das klanglich Widerstrebende ins System der Form integriert, steht quer zu einem für die ästhetische Erfahrung grundlegenden Widerspruchsprinzip zwischen ›schönem‹ Sinn und ›erhabenem‹ Unsinn. Der normative Anspruch Schafers, der deutlich zugunsten des Ersten ausfällt, wirft die Frage auf, inwiefern es Musikwissenschaft auf dieser Linie noch mit ästhetischen Gegenständen zu tun hätte, die per definitionem auch das Gegenteil von Wohlbefinden erzeugen.

Zur Autorin: Magdalena Zorn ist Professorin für Musikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.


[1] Vgl. Donna Haraway: „Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective“. In: Feminist Studies14/3 (1988), 575–599.

[2] R. Murray Schafer: The Soundscape: Our Sonic Environment and the Tuning of the World (1977). Rochester 1994, 3.

[3] Ebd., 6.

[4] Ebd.

[5] Vgl. Amy Cimini: Wild sound: Maryanne Amacher and the tenses of audible life. New York 2022.

[6] Schafer: The Soundscape, 249. 

[7] Georg Toepfer: Historisches Wörterbuch der Biologie: Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe 3. Stuttgart u. a. 2011, 701. 

[8] Schafer: The Soundscape, 249.

[9] John Dewey: Kunst als Erfahrung (Art as Experience, 1934). Frankfurt am Main 1980, 47.

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