Anforderungen an die Musikwissenschaft in Zeiten sinkender Studierendenzahlen – Vier Provokationen

von Moritz Kelber und Sebastian Bolz

Laut einer Studie des Musikinformationszentrums ist die Zahl der Studierenden im Fach Musikwissenschaft in Deutschland seit dem Jahr 2000 um 36 % gesunken. Dieser Trend ist alarmierend, gerade weil die Gründe dafür schwer festzumachen sind. Auf dem Weg der Ursachenforschung haben wir als Redaktion von musiconn.kontrovers vor einigen Monaten mit vier zum Teil gegenläufigen „Provokationen“ innerhalb der Fachgruppe Nachwuchsperspektiven der Gesellschaft für Musikforschung eine Debatte angeregt. Nun wollen wir diese Thesen auf musiconn.kontrovers einer breiteren Fachöffentlichkeit zur Diskussion stellen.

Zunächst jedoch ein genauer Blick auf die Zahlen, die öffentlich zugänglich sind, wobei die Grenze bewusst auf das Jahr 2019 gesetzt wird. Die längerfristigen Auswirkungen der Coronapandemie auf die Universität im Allgemeinen und auf das Studienfach Musikwissenschaft sind aktuell kaum absehbar. Einige Berichte aus den deutschen Universitäten geben allerdings Anlass zu großer Beunruhigung.

In Deutschland erwerben heute weitaus mehr junge Menschen eines Jahrgangs die Allgemeine Hochschulreife (2019: 40,2 % eines Jahrgangs), als dies noch 2002 (26,7 %), 1992 (22,6 %) oder 1975 (14,7 %; früheres Bundesgebiet inkl. Berlin-West) der Fall war. Immer größere Teile der Gesellschaft erhalten also Zugang zu Hochschulbildung – eine Entwicklung, die sowohl von Bildungsforscher:innen als auch von der Bildungspolitik gefördert und begrüßt wird. Das Wachstum führte zum Teil auch zu einer Diversifizierung der an Universitäten vertretenen Milieus. Trotz dieser Verbreiterung ist die soziale Selektivität des deutschen Hochschulsystems noch immer eines der größten bildungspolitischen Probleme. Für hochschulpolitische Fragestellungen mindestens genauso bedeutsam ist die absolute Zahl junger Menschen, die jährlich die allgemeine Hochschulreife erwerben. Sie lag im Jahr 2019 (300.200) zwar um ca. 20 % niedriger als im Jahr des absoluten Höchststands 2013 (371.800), stand damit aber immer noch etwa auf dem Niveau des Jahres 2007 (302.600), das seit 1990 stetig angestiegen war. Ein Großteil der Menschen, die eine allgemeine Hochschulreife erworben haben, entscheidet sich in der Folge für ein Studium – oft an einer Universität. So entwickelten sich die absoluten Zahlen der Studienanfänger:innen parallel zu denen der Abiturient:innen. Im Jahr 2019 nahmen 288.066 Menschen ein Studium an einer Universität auf, was ebenfalls ein Rückgang um etwa 17 % seit dem Höhepunkt im Jahr 2011 (319.576), aber dennoch in etwa auf dem Niveau von 2009 (258.483) war.[1] Insgesamt vergrößerte sich die Zahl der an allen Hochschularten eingeschriebenen Studierenden von etwa 1.798.863 im Jahr 2000 auf 2.891.049 im Jahr 2019 (Erhöhung um 60,72 %). Der aus den gestiegenen Studierendenzahlen in die Höhe geschnellte Bedarf an Dozierenden wurde von der Bildungspolitik nur teilweise gedeckt. Dies macht der Blick auf die Anzahl der hauptberuflichen Professuren deutlich. Sie erhöhte sich im gleichen Zeitraum von 37.794 (2000) auf 48.547 (2019), was eine Steigerung von 28,45 % bedeutet.

Der in den Statistiken des MIZ erkennbare Rückgang der Studierendenzahl im Bereich der Musikwissenschaft fällt im Verhältnis zur allgemeinen Entwicklung noch einmal weitaus dramatischer aus:

Der Anteil der Studierenden der Musikwissenschaft im Verhältnis zur Gesamtzahl der an allen Hochschularten eingeschriebenen Personen hat sich seit dem Jahr 2000 von knapp 0,5 % auf ca. 0,23 % etwa halbiert.[2]

Diese Entwicklung zeichnet sich auch dann ab, wenn man die Gesamtzahl der Musikwissenschaftsstudierenden mit der Zahl an Universitäten eingeschriebenen Studierenden in Beziehung setzt, wo Studiengänge im Fach Musikwissenschaft vor allem angesiedelt sind (Abb. 1).

Bemerkenswert erscheint in unserem Zusammenhang die Zahl der Kunst- und Kunstwissenschaftsstudierendenden an Universitäten, die seit 1997 relativ konstant geblieben ist – und das trotz der stark gestiegenen Gesamtstudierendenzahl. Der Zulauf zum Studienfach Musikwissenschaft entwickelt sich seit 25 Jahren also nicht nur gegen den universitätsweiten Trend, sondern auch gegen die Entwicklung in der Fächerfamilie.

Die kulturpessimistische Standardbegründung für diese Entwicklung lautet: Die musikalische Ausbildung junger Menschen wird immer schlechter. Immer weniger Kinder und Jugendliche lernten ein Instrument, was zur Folge habe, dass das allgemeine Interesse an Musik rückläufig sei. Allerdings: Das Gegenteil scheint der Fall zu sein – zumindest wenn man den Erhebungen des Verbands deutscher Musikschulen (VdM) folgt: Selbst bei den „klassischen (Orchester‑)Instrumenten“ ist bei den Anmeldezahlen zwischen 2000 und 2020 ein Zuwachs zu verzeichnen. Auch beim Blick in die Gymnasien kann man keineswegs pauschal einen quantitativen Rückgang des Schulfachs Musik beobachten. Zwar ist der Anteil der Leistungskurse gerade in den letzten Jahren empfindlich zurückgegangen, der Anteil der Schüler:innen, die Musik als Grundkursfach wählten, stieg dagegen seit 2002 von 22 % auf 30 % an. Hier ist allerdings zu bemerken, dass die Struktur des Musikunterrichts in der Schule bundesweit kaum vergleichbar sein dürfte, da die Lehrpläne und Strukturen der Länder schlicht zu verschieden sind. Bedenklich, aber vermutlich höchstens mittelbar ursächlich für das in diesem Beitrag diskutierte Problem ist der Umstand, dass an Grundschulen nur 43 % des Musikunterrichts von spezifisch ausgebildetem Personal unterrichtet werden. Zumindest der oberflächliche und laienhafte Blick auf das verfügbare Zahlenmaterial zeigt, dass es in Deutschland keine eindeutige, aus den Statistiken zu destillierende Begründung für das sinkende Interesse an der Musikwissenschaft gibt, und dass die Verantwortung nicht allein in der voruniversitären musikalischen Ausbildung junger Menschen zu suchen ist.

Warum ist diese Entwicklung nun aber überhaupt beunruhigend? In den Gesprächen, die wir in den letzten Monaten zu diesem Thema geführt haben, hörten wir häufig, dass es sich womöglich sogar um einen gesunden Prozess handle. Es würden am Arbeitsmarkt ja gar nicht so viele Musikwissenschaftler:innen benötigt, weshalb der Rückgang zu begrüßen sei. Inwieweit die Beobachtung nach einer geringen Nachfrage nach Musikwissenschaftler:innen außerhalb akademischer Berufe überhaupt zutreffend ist, wollen und können wir an dieser Stelle nicht bewerten. Wir möchten lediglich auf einen sehr simplen universitätspolitischen Mechanismus hinweisen – auf die Logik also, in der Hochschulleitungen nicht erst seit Bologna operieren. Die Anzahl an Stellen, insbesondere an Professuren, bemisst sich zu einem beträchtlichen Maß an der Anzahl der Studierenden in einem Studiengang. Das Wegbleiben von Lernenden bedeutet mittel- und langfristig auch, dass weniger Mittel in Personal fließen. Insofern sind die Studierendenzahlen auch für den Fortbestand akademischer Forschung in der Musikwissenschaft essentiell.

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Hier nun also die Provokationen, die als Anstoß zur Ursachenforschung dienen sollen. Wir freuen uns über eine angeregte Debatte – gerne über die Kommentarfunktion. Falls Sie Interesse an einem längeren eigenständigen Beitrag haben, zögern Sie bitte nicht, uns zu kontaktieren.

1. Das Fach wird von Studieninteressierten als zu konservativ, zu philologisch, zu sehr am eurozentrischen Kanon orientiert empfunden. Das spiegelt die Lebenswirklichkeit junger Menschen nicht wider, die sich selbst zunehmend als musikalische Allesfresser:innen empfinden. Ein Fach, das sich nicht stärker solchen Themen öffnet, die Studienanfänger:innen tatsächlich beschäftigen, wird verschwinden.

2. Die potentielle Studierendenschaft ist weitaus diverser als ihr Ruf – in mehreren Richtungen: Einerseits bringen Studierende vielfältige kulturelle Bildungs- und Interessenhintergründe mit an die Universitäten, denen nicht alle Institutionen mit den entsprechenden Angeboten begegnen können oder wollen. Andererseits sind Abiturient:innen – vielleicht auch gesellschaftlich – bisweilen konservativer, als es die Forschungsinhalte der akademischen Disziplin sind. Dies hängt mit Erfahrungen aus dem Schulmusik- oder Instrumentalunterricht, aber auch mit einer gedanklichen Trennung zusammen: Hörgewohnheiten und Interesse an Musik als Reflexionsgegenstand sind nicht notwendig deckungsgleich. Musikalische Allesfresserei führt nicht zwangsläufig zu der Erwartung, diese auch im Studienfach abgebildet zu finden.

3. Das vielbeschworene Humboldt’sche Bildungsideal ist tot: Die gesellschaftlichen Erwartungen an ein Hochschulstudium haben sich in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend verschoben. Für junge Menschen, die den Schritt an eine Hochschule oder Universität gehen, ist das Studium in erster Linie eine Berufsausbildung. Fächer wie die Musikwissenschaft haben sich dieser Realität unzureichend gestellt und müssen nun mit den Konsequenzen leben. Standorte, die ihre Curricula nicht stark auf die berufliche Qualifikation ausrichten, werden es schwer haben, weiter Studierende für sich zu gewinnen.

4. Die Konsequenz aus dieser Erwartung an das Studium als Berufsvorbereitung ist für weite Teile der akademischen Musikwissenschaft so einfach wie schmerzhaft: Forschung und Lehre driften auseinander, von einer Einheit dieser Bereiche kann keine Rede mehr sein. Die Forschungsinhalte entsprechen immer weniger dem, was in der für Musikwissenschaftler:innen relevanten Berufspraxis und damit in der Ausbildung gefragt ist und umgekehrt. Die Folge ist gerade für Wissenschaftler:innen in der sogenannten „Qualifikationsphase“ ein Spagat zwischen Forschung (als eigene, genuin akademische, nicht an berufspraktischen Erfordernissen orientierte Qualifikation) und Lehre (als dezidierte Berufsqualifizierung von Studierenden, insbesondere in Lehrveranstaltungen mit Praxisbezug), der unter den aktuellen wissenschaftspolitischen Bedingungen auf die Trennung dieser beiden Felder zuläuft.

Datenmaterial zur Grafik als PDF


[1] Diese Momentaufnahmen sind maßgeblich von den verschiedenen Schulreformen beeinflusst (Stichwort: Doppelter Abiturjahrgang).  (Blickt man nicht nur auf die Universitäten, sondern auf die Hochschulen insgesamt stellt sich die Entwicklung bei den Studienanfänger:innen etwas anders dar. Der stetige Zuwachs endet hier insgesamt erst im Jahr 2017 auf einem Höchststand von 512.419 Erstsemester:innen. Seitdem ist eher eine Stagnation zu beobachten. Das liegt vor allem an der wachsen Popularität von praxisnahen Studiengängen an Fachhochschulen.

[2] Die Grundlage der über die Aufstellungen des MIZ hinausgehenden Beobachtungen sind die Daten, die das Statistische Bundesamt in der Fachserie 11 / Reihe 4.1 unter dem Titel „Bildung und Kultur – Studierende an Hochschulen“ jährlich veröffentlicht. Hier wird jährlich eine Rubrik „Musikwissenschaft/-geschichte“ erfasst, wobei nicht genau ersichtlich ist, welche Studiengänge in diese Kategorie fallen – ob hier also zum Beispiel neu entstandene Musikmanagementstudiengänge eingeschlossen werden. Im Kapitel 7 der jährlichen Berichte werden die „Belegungen“ nach Fach erfasst.

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