Vor kurzem haben Moritz Kelber und ich in einem Artikel mit vier „Provokationen“ nach Gründen für den Abwärtstrend gesucht, in dem sich die Studierendenzahlen der Musikwissenschaft seit Jahren befinden. Diesen Diskussionsvorschlägen möchte ich mit diesem Text noch einige weitere Punkte hinzufügen. Es handelt sich um Zuspitzungen beim Versuch zu verstehen, wie wir in die aktuelle Situation gekommen sind und wie wir sie möglicherweise für die Musikwissenschaft nicht nur als Studienfach, sondern als akademische Disziplin in eine Trendwende ummünzen könnten. Insofern betreffen sie einerseits Punkte, die innerhalb des Fachs zu diskutieren wären, andererseits Aspekte der Außenwirkung.
Einen Disclaimer möchte ich den Überlegungen voranstellen: Ich bin ein historisch und vorwiegend auf Deutsch arbeitender Musikwissenschaftler, der in München in einem Projekt beschäftigt, das die Edition der Werke eines einzelnen Komponisten zum Ziel hat. In diesem Profil begegnen sich mehrere Elemente einer ‚traditionell‘ ausgerichteten Musikwissenschaft, die es – so haben wir es in unseren Provokationen formuliert – herauszufordern gilt. Und dennoch ergeben sich für mich aus dieser fachlichen, regionalen und methodischen Sozialisierung gewisse Perspektiven, die ich gerne explizit in die Diskussion einbringen möchte. In diesem Sinne, als Anstoß zum produktiven Streit, geschieht dies unter dem expliziten Willen zur Überzeichnung und zur unverfrorenen Vermutung.
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Als leidenschaftlicher Besucher von Buchhandlungen und Antiquariaten führt mich mein Weg immer in die (durchaus nicht seltener oder schmäler werdende) Abteilung „Musik“. Diese Regale, die in der Regel vor allem Biographien, etwas seltener für den „klassischen“ Bereich auch Epochen- und Gattungsdarstellungen anbieten, verkörpern meinem Eindruck nach mehr als nur anekdotische Evidenz für ein Problem, das unsere Fächergruppe für ihre Außenwirkung hat: Der Bereich „E-Musik“ wird zumeist von Autor*innen versorgt, die (im weiteren Sinne) ‚akademische‘ Zugänge zu Musik repräsentieren. Darunter will ich Bücher von Musikwissenschaftler*innen verstehen, aber auch – gewiss nicht weniger marktrelevant – von Kritiker*innen und vor allem Musiker*innen, wobei offenbar Dirigenten (sic) besondere Einsicht und Sprechfähigkeit zugetraut werden. (Über die Qualität der Texte ist damit nichts ausgesagt!) Auffällig bleibt freilich, dass auch in diesem ‚akademischen‘ Segment bevorzugt Formen der Selbsterzählungen – gerne auch als „Gedanken über Musik“ – den Weg in die Regale finden.
Für den Bereich „U-Musik“ (was nicht meine Unterscheidung ist, sondern die Sortierung besagter Regale wiedergibt) gilt die Konzentration auf spezifisch musikalische, ‚akademische‘ Hintergründe nur eingeschränkt, der Aspekt der Selbsterzählung aber umso mehr: Hier schreiben entweder Insider*innen der Szene (Kritiker*innen, Techniker*innen, Musiker*innen) und Vertreter*innen anderer Fächer (Literatur-, Kultur-, Medienwissenschaften usw.) – oder es handelt sich um Übersetzungen englischsprachiger Texte. Um nicht falsch verstanden zu werden: Diese Publikationen sind so anregend und wichtig wie verdienstvoll. Und es ist hochgradig erfreulich, dass das Segment offenbar lukrativ genug für Verlage ist, um etwa Reihen zu pflegen, die in kompakter Form musikalische Inhalte vermitteln, und es ist ebenso ermutigend zu sehen, dass es viele Kolleg*innen unterschiedlicher fachlicher Herkunft gibt, die sich mit Musik beschäftigen – und vor allem, dass so viele einen Weg finden, diesen persönlichen (im Doppelsinn von an der eigenen Erfahrung, aber auch an Künstler*innen interessierten) Zugang zu formulieren, der sich nicht in erster Linie als musikwissenschaftlich beschreibt.
Was dieses Phänomen über die musikwissenschaftliche Interpret*innen- und Interpretationsforschung aussagt, wäre Thema für einen anderen Text. Auf einem anderen Blatt steht auch das Fehlen junger Autor*innen, das jener „Qualifikations“logik geschuldet sein dürfte, die Wissenschaftler*innen bis in ihr fünftes Lebensjahrzehnt beschäftigt hält. Das Schreiben von „Publikumsliteratur“ wirft in dieser Logik bislang keinen nennenswerten Reputationsgewinn ab und steht entsprechend weit unten auf der Agenda des sogenannten „Nachwuchses“. In diesen Zusammenhang gehört auch die deutsche Publikationspflicht von Dissertationen und die ganz anders geartete Buchkultur, die etwa im englischsprachigen Raum im Bereich musikrelevanter Literatur gepflegt und durch den Wegfall eben dieser Publikationspflicht möglich wird.
Angesichts dieser Abstimmung mit der Buchseite scheint es jedenfalls, als habe ‚die Musikwissenschaft‘ bestehende Gesprächsangebote nicht recht wahr- oder aufgenommen. Ich denke hier an Reclams 100 Seiten (wo mit erstaunlicher Konstanz musikalische Themen von Literatur-, Medien- und Politikwissenschaftler*innen bearbeitet werden) oder C. H. Beck Wissen – um nur zwei Beispiele zu nennen, die sich inhaltlich, aber auch etwa in Sachen Diversität an unterschiedlichen Enden des Spektrums bewegen. Im Bereich der Popularmusik steht dieser Publikationsmarkt in einem kuriosen Missverhältnis zur deutschsprachigen Forschung in diesem Feld. (Der Blick auf den internationalen Buchmarkt und auf die international ausgerichtete Forschung gerade im Bereich der Popular Music Studies wäre ein Thema für einen eigenen Beitrag.[1])
Nun folgt ein Schritt, der den Disclaimer oben nötig gemacht hat, denn im Grunde steht es mir nicht zu, Kolleg*innen, die zur Popularmusik forschen, Vorschläge zu machen – und bei all dem gilt es immer mit zu denken, dass die sogenannte historische Musikwissenschaft ihrerseits eine Öffnung gegenüber Phänomenen einer bestimmten musikalischen Vergangenheit recht nötig hätte. Dennoch werde ich den Verdacht nicht los, dass die Musikwissenschaft (wenn wir diesen Singular noch gebrauchen wollen) in ihrer Außenwahrnehmung insgesamt enorm davon profitieren könnte, wenn die akademische Popularmusikforschung präsenter in diesem Markt wäre. Das muss einerseits bedeuten, dass bestehende Forschung ihren Weg in publikumswirksame Publikationen findet. Es kann aber andererseits auch bedeuten, dass (dort zu Recht kritisierte) Methoden der historischen Musikwissenschaft für die Popularmusikforschung den Weg in die Regale der Buchhandlungen erleichtern könnten – dass die Popularmusikforschung also ihre Gegenstände und Methoden womöglich etwas historischer (im Gegensatz zu systematisch) fassen könnte, was nur auf den ersten Blick wie ein Aufruf zum aufgeklärten Konservatismus klingen mag. Ich will hier gewiss weder einer Kanongläubigkeit noch einer methodischen Mottenkiste das Wort reden – doch der Blick in die Verlagsprogramme zeigt, dass es eben vor allem interpreten- und damit personenzentrierte Zugänge sind, die beim Publikum nachgefragt werden. Genuin musikwissenschaftliche Forschung, die diese Nachfrage im Bereich Popularmusik für den deutschsprachigen Markt sättigt, scheint mir bislang wenig präsent. Nebenbei bemerkt gilt dies auch für einen weiteren Bereich, in dem Wissen über Musik eine nie dagewesene Präsenz besitzt: Formate wie YouTube-Kanäle, die sich Detailanalysen von Songs usw. widmen, oder Podcasts, in denen musikgeschichtliches Wissen verhandelt wird, werfen – zumindest in Deutschland – bislang keine entscheidende Aufmerksamkeit für das Studienfach Musikwissenschaft ab. Öffentlichkeitswirksame Wissenschaftskommunikator*innen mit musikwissenschaftlichem Hintergrund sind die Ausnahme, Figuren wie Mai Thi Nguyen-Kim, Harald Lesch, Ranga Yogeshwar, Sandra Ciesek kennt die Musikwissenschaft nicht. (Ein Schelm, wer hier an musikspezifische Pendants zu Richard David Precht denkt.)
Freilich kann es nicht das Ziel der Forschung sein, sich anzubiedern und in den Bereich der Liebhaberei zu begeben. (Davon hat die Musikwissenschaft fachgeschichtlich bereits genug zu bieten …) Doch würde die Musikwissenschaft gewiss davon profitieren, wenn sie in allen musikalischen Bereichen als Gesprächspartnerin selbstverständlicher zur Verfügung stünde. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Diese Überlegungen sollen nicht mit dem Finger auf andere zeigen, sie richten sich nicht nur an Kolleg*innen, die zu Popularmusik forschen, sondern an das Fach insgesamt. Die Methoden der historischen Musikwissenschaft haben – davon bin ich überzeugt – potentiell ein breites Publikum. Es läge an den Forscher*innen, sie an Gegenständen zu diskutieren, die auch jenseits einer bestimmten Publikumsschicht ankommen.
Zwei weitere Bemerkungen scheinen mir in diesem Zusammenhang angebracht, die wiederum die Perspektive des sog. „wissenschaftlichen Nachwuchses“ betreffen: Wenn hochschulpolitische Entscheidungsträger*innen und Förderinstitutionen diesen „Transfer“ verstärkt fordern, dann müssen dafür natürlich auch die Bedingungen entstehen: Das betrifft einerseits die oben beschriebene sogenannte Qualifikationsphase. Es betrifft aber ebenso die Förderung von Forschung zur Popularmusik insgesamt, die etwa bei der DFG nur einen kleinen Teil der geförderten Projekte ausmacht. Doch auch an den Universitäten, in den Instituten und damit im Fach selbst lauert eine künstliche Beschränkung: Wissenschaftler*innen, die jenseits von Genre- und Methoden-Grenzen arbeiten – und sich in ihrer Forschung etwa für die Oper des 18. Jahrhunderts ebenso interessieren wie für „Kraftwerk“ – sind in der Denominations-Logik musikwissenschaftlicher Professuren bislang bestenfalls eine Ausnahme.
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Die Diagnose, dass es der Musikwissenschaft an öffentlichkeitswirksamen Gallionsfiguren mangelt, ist wohlfeil; ebenso die Frage, wie das Fach breiter, häufiger und lebendiger zum Beispiel in den großen Feuilletons (aber auch auf dynamischeren Plattformen, etwa den sozialen Medien) stattfinden könnte. Und doch kommt man beim Blick auf Nachbarfächer – ich denke an die Literaturwissenschaften, an die Soziologie, die Philosophie – nicht umhin, die Nicht-Existenz einer Tradition des (und der) Intellektuellen zu konstatieren. Musikwissenschaftliche „public intellectuals“ sind eine Ausnahmeerscheinung. Testweise könnte man sich überlegen, wie etwa Publikationsformate, die für benachbarte Fächer eine intellektuelle Tradition und ein theoretisches Selbstverständnis als Geschichte seiner Denker*innen abbilden (mit allen Problemen, die eine solche Kanonisierung zwangsläufig mit sich bringt), für die Musikwissenschaft aussehen würden. Ich denke hier etwa an die Beck’sche „Klassiker“-Reihe, in der u. a. Klassiker der Kunstgeschichte, der Soziologie oder der Geschichtswissenschaft vorgestellt werden. Obwohl ein personenzentrierter Zugang als solcher fraglos problematisch ist und die genannten Beispiele gewissermaßen Standardsituationen der Kritik darstellen (etwa aus Kanon-, postkolonialer oder Gender-Perspektive), können Formate wie diese eine Berechtigung haben, indem sie einen greifbaren Einstieg und Überblick in eine Wissenschaft bieten.
Wer sich etwas weiter aus dem Fenster lehnen wollte, könnte schließlich und noch einmal die traditionell große Nähe der (historischen) Musikwissenschaft zur musikalischen Praxis (im Sinne von: Sozialisierung von Wissenschaftler*innen als Musik Ausübende) in den Blick nehmen und fragen, ob sich in ihr eine Tradition des Anti-Intellektualismus erkennen lässt, verkleidet in einer vermeintlichen Konzentration auf „den Gegenstand selbst“. Immerhin ist dies alles kein Phänomen nur der Gegenwart: Während etwa die Literaturwissenschaften noch heute von einer Offenheit für theoretische Fragen, einer Debatten-Freudigkeit profitieren (wohlgemerkt: auch bei Studienanfänger*innen), die sich in den 1970ern geradezu als gesellschaftliches Phänomen darstellte, hat es eine musikwissenschaftliche Suhrkamp-Kultur nicht gegeben. (Nicht dass eine solche ausschließlich wünschenswert wäre – und gewiss hat dieses Phänomen verschiedene Ursachen!) Die damit einhergehende Präsenz in öffentlichen Debatten, vielleicht sogar ein gesellschaftsdiagnostischer Anspruch ist entsprechend schwach ausgebildet oder sichtbar, auch wenn das Potential im Gegenstand selbstverständlich angelegt wäre. Mein Verdacht aus Sicht der Musikwissenschaft lautet hier: „Uns“ fehlte und fehlt jener „lange Sommer der Theorie“, der in vielen Disziplinen jene Texte hervorgebracht hat, die noch heute diskutiert werden oder Anstöße zu Paradigmenwechseln gegeben haben. Diese schon so häufig beklagte Theoriearmut der Musikwissenschaft ist nicht nur ein Problem für die Komplexitätsfähigkeit des Fachs, auch wenn ‚Theorie-Import‘ natürlich stattfindet. Sie war und ist in der Hinsicht von Außenwirkung und Attraktivität für Studieninteressierte vor allem ein Hemmnis auf dem Weg zu einer Debattenkultur, die dem Fach und seinen Vertreter*innen ein öffentliches Profil erlaubt. Dies wäre – gerade auch in der Spannung zum oben Gesagten – die zunächst kontraintuitive zweite These: dass nicht das Einfache, vermeintlich auf ‚Vermittelbarkeit‘ und ‚Zugänglichkeit‘ Gemünzte, sondern das Komplexe das Medium ist, das den Weg in die Öffentlichkeit erlaubt. Öffentlichkeit wäre hier zu verstehen als breite öffentliche Wahrnehmung, die insbesondere auch von der Möglichkeit lebt, am interdisziplinären Gespräch teilzunehmen, nicht nur als Zaungast im Rang einer Geheimwissenschaft oder Bindestrich-Disziplin. Noch einmal: Die Existenz im (ja seinerseits immer wieder totgesagten) Feuilleton ist gewiss kein Indikator fachlicher Relevanz. Aber sie kann – in Verbindung mit einer lebendigen, medial gefestigten Beobachtungs-, Beschreibungs- und Diskussionskultur in unterschiedlichen Kanälen – ein Argument im Sinne von Studienentscheidungen sein.
In diesem Sinne wäre zu überlegen, wie Sammlungen zusammengesetzt sein könnten, die Grundlagentexte für die Musikwissenschaft bieten, etwa im Stile der Reclam-Einführungen mit Texten zur Theorie der Autorschaft, des Theaters, des Textes usw.[2] Immerhin handelt es sich gerade bei solchen Publikationen um eine Schnittstelle von Theoriearbeit, breitenwirksamer Zugänglichkeit und Einstiegs-Literatur. Allein: Hier fehlt es wiederum an einem Stand der Diskussion (und nicht unbedingt an den Texten selbst). Wer einmal das Vergnügen hatte, eine Einführung in die Musikwissenschaft zu unterrichten, wird vermutlich festgestellt haben, dass nicht nur die konkreten Textsammlungen, sondern vielmehr deren Grundlage – die gemeinsame theoretische Basis und die Übereinkunft über grundlegende Perspektiven des Fachs – fehlen.Solche Überlegungen gehen nach „innen“ wie nach „außen“: Es schiene mir durchaus reizvoll, Publikationen wie diese zu konzipieren, um Zugänge zur Musikwissenschaft für Einführungskurse verfügbar zu machen. Noch reizvoller und fruchtbarer schiene mir aber die innerfachliche Debatte darüber, welche Texte, welche Einflüsse sich die Musikwissenschaft selbst in ihre Fachgeschichte einschreiben will. Ein Effekt dieser Debatten könnte dann ein fachliches Profil sein, das sich im Publikumsbereich platzieren und die Musikwissenschaft in ihrer Breite und Offenheit wahrnehmbar macht. Dies wäre die Voraussetzung, um den sinkenden Studierendenzahlen nicht nur strategisch, sondern auch inhaltlich etwas entgegenzusetzen.
[1] Für diesen Hinweis danke ich Pascal Rudolph.
[2] Der Band Texte zur Musikästhetik stellt eine erfreuliche Ausnahme dar, der bezeichnenderweise wiederum von zwei Literaturwissenschaftler*innen herausgegeben wurde.