Klassismus in der Musikwissenschaft
Diskriminierungen sind in den vergangenen Jahren ein vieldiskutiertes Thema – auch unter Musikwissenschaftler*innen.[1] In Forschungsprojekten, Diskussionsrunden und Lehrveranstaltungen werden regelmäßig verschiedene Diskriminierungsformen im Musikbetrieb diskutiert (z. B. aufgrund von Migrationsbiographien, Geschlecht oder sexueller Orientierung). Die Frage, wie es mit diesen Problemen innerhalb der musikwissenschaftlichen Fachcommunity aussieht, wird allerdings selten gestellt (zumindest in der historischen Musikwissenschaft). Ein Begriff, der in musikwissenschaftlichen Kontexten bislang kaum zur Sprache kommt, ist ‚Klassismus‘, also die „Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft oder aufgrund der sozialen Position“.[2]
Klassismus – zunächst verbreitet in seiner englischen Form „classism“ – richtet sich insbesondere gegen „Menschen mit geringem kulturellen Kapital (z. B. ohne höhere Bildungsabschlüsse) und gegen solche, die unter ökonomisch weniger privilegierten bis prekären Bedingungen leben (die z. B. erwerbslos, geringverdienend oder obdachlos sind).“[3] Er meint nicht nur die strukturelle Ungleichbehandlung von Menschen aufgrund der aktuellen individuellen ökonomischen Verhältnisse, sondern auch aufgrund der Umstände, in denen eine Person aufgewachsen ist. Beachtung findet das Thema Klassismus in der soziologischen Forschung, aus der in den vergangenen Jahren grundlegende Studien zum Thema hervorgegangen sind.[4] Auch Klassismus im Bildungs- und Wissenschaftsbetrieb rückte in jüngster Zeit vermehrt in den Fokus. Dabei wurden nicht nur klassistische Diskriminierungen in Bildungssystemen sichtbar gemacht sowie ihre intersektionale Verflechtung untersucht, sondern auch Vorschläge zu ihrer Bewältigung unterbreitet. Die soziale Selektivität des deutschen Hochschulwesens ist ein weiterhin ungelöstes Problem, auf das von Bildungsforschung und politischen Initiativen seit vielen Jahren hingewiesen wird. Der soziale Hintergrund beeinflusst die Bildungschancen von Schüler*innen und Studierenden maßgeblich. Ein Blick auf die Zahlen jüngster bildungspolitischer Untersuchungen verdeutlicht, wie gravierend die Probleme sind. Unterschieden wird hier zwischen Personen, bei denen mindestens ein Elternteil studiert hat („Akademiker*innenkinder“), und Personen, bei denen kein Elternteil studiert hat („Nichtakademiker*innenkinder“). Laut des Abschlussberichts des Hochschul-Bildungs-Report 2020 des Stifterverbands zeigt sich, dass 79% der Grundschüler*innen aus einem Akademiker*innenhaushalt später ein Studium aufnehmen, während es bei Kindern von Nichtakademiker*innen nur 27% sind.[5] Einen Masterabschluss erreichen 64 von 100 Akademiker*innenkinder, aber nur 11 von 100 Personen aus Nichtakademiker*innenhaushalten. Schließlich erwerben 6 von 100 Akademiker*innenkindern einen Doktortitel im Vergleich zu 2 von 100 Nichtakademiker*innenkindern. Obwohl die Datenlage nicht zufriedenstellend ist und dringend weitere Erhebungen notwendig wären, ist festzuhalten, dass die im Report untersuchte „chancengerechte Bildung“ im Vergleich zu den anderen Handlungsfeldern die größten Probleme aufweist.
Die Geisteswissenschaften sind von den Herausforderungen rund um klassistische Strukturen im Hochschulbereich keineswegs ausgenommen. Sie sind vorwiegend an Universitäten verankert, die (stärker als Hochschulen für angewandte Wissenschaften) von Studierenden aus akademisch geprägten Haushalten dominiert werden.[6] Zudem machen gerade geisteswissenschaftliche Disziplinen Wissen zur Voraussetzung, das man im Sinne Pierre Bourdieus als den höheren Klassen vorbehaltenes kulturelles Kapital bezeichnen kann.[7] Die Musikwissenschaft dürfte ein Paradebeispiel für eine Disziplin sein, die vor dem Studium und in der Regel außerhalb der Schule erworbenes Wissen und Fähigkeiten zur Voraussetzung für den Studieneintritt und das Studium macht. So ist das Beherrschen eines (klassischen) Musikinstruments und die Fähigkeit, Noten lesen zu können, an vielen Musikwissenschaftsstandorten mindestens implizit Voraussetzung für die erfolgreiche Durchführung eines Studiums. Es reicht dabei oft nicht aus, „etwas über Musik zu wissen“ – sich zum Beispiel in ein bestimmtes Genre der populären Musik sehr intensiv eingearbeitet zu haben. Studiengänge setzen im Gegenteil kanonisiertes Wissen der sogenannten Allgemeinen Musiklehre voraus, ein Begriff, der im 21. Jahrhundert durchaus einer kritischen Reflektion bedarf. Das könnte der Disziplin im Kontext der Diskussion um klassistische Diskriminierung im Hochschulwesen eine Sonderstellung einräumen, denn der Erwerb jenes zur Voraussetzung gemachten Vorwissens ist im deutschen Sprachraum (und darüber hinaus) üblicherweise nicht durch die reguläre Schulausbildung gesichert und somit eng an den Geldbeutel von Fürsorgepersonen gekoppelt, die die außerschulische musikpraktische Ausbildung finanzieren müssen. Für Großbritannien hat Anna Bull in ihrem grundlegenden Buch Class, Control, and Classical Music gezeigt, wie eng die musikalische Bildung an die soziale Herkunft gekoppelt ist.[8] Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2017 unterstreicht, dass die Frage, ob ein Kind eine musikalische Ausbildung erhält oder nicht, auch in Deutschland entscheidend vom Einkommen und Bildungsgrad (diese beiden Größen unterliegen ihrerseits einer komplexen Wechselwirkung) der Fürsorgepersonen abhängt. Hartmut Welscher hat die Chancenungleichheit im Bereich der musikalischen Bildung jüngst in einem aufschlussreichen Artikel für das VAN-Magazin aufgearbeitet.
Ist die Musikwissenschaft also ein klassistisches Fach und vielleicht sogar klassistischer als Nachbardisziplinen? Bedauerlicherweise fehlen bislang Erhebungen und Zahlen über die soziale „Klasse“ von Studierenden und Forschenden im Fach Musikwissenschaft, auf deren Basis diese Fragen näher diskutiert werden könnten.
In einem Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beklagte der Zürcher Musikwissenschaftler Laurenz Lütteken die sinkende Allgemeinbildung im Bereich Musik. Die „musikalische Bildung“ sei „weitgehend erodiert“. Daran seien nicht nur die Schulen Schuld, sondern auch Institutionen wie Rundfunkanstalten, die ihr Publikum so behandeln würden, als hätte es den „Verstand verloren“. (Klassische) Musik erfordere Anstrengung, nicht nur in ihrer Produktion, sondern auch in ihrer Rezeption. Für unzulässig erklärt Lütteken – in argumentativer Nähe zu Theodor W. Adorno – eine rein emotionale Rezeption von Musik, die lediglich unvollständiges Musikerleben ermögliche. Artikel wie jener von Lütteken laufen Gefahr, in der Außenwahrnehmung den Ruf der Musikwissenschaft als besonders exklusives Fach aus den oberen Etagen des Elfenbeinturms zu perpetuieren. In bestimmten öffentlichen Räumen entsteht so ein unvollständiges Bild der Disziplin, insbesondere weil andere Stimmen in den Feuilletons vieler großer deutscher Tageszeitungen nicht stattfinden.
Der Begriff Klassismus kam in seiner englischen Form (classism) in den 1970er Jahren als Parallelbildung zu anderen Diskriminierungsformen wie Sexismus und Rassismus auf. In der Forschung besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass der Begriff und das Phänomen Klassismus von Grund auf intersektional gedacht werden müssen. Die Frage nach Diskriminierungen aufgrund von sozialer Herkunft lässt sich also nicht getrennt von anderen Diskriminierungsmechanismen betrachten, sondern ist eng mit diesen verwoben. Gleichwohl spielt Klassismus in der Theoriebildung der Intersektionalitätsforschung (auch jenseits der Musikwissenschaft) eine eher untergeordnete Rolle – und das, obwohl die Verflechtung kaum bestritten wird. In diesem Bewusstsein veranstaltete die Fachgruppe Nachwuchsperspektiven der Gesellschaft für Musikforschung im Rahmen der Jahrestagung 2022 in Berlin ein gemeinsames Symposium mit der Fachgruppe Musikethnologie, das sich unter dem Dachbegriff „Diversity“ mit Diskriminierungsmechanismen aus verschiedenen Blickwinkeln auseinandersetzte. Im von der Fachgruppe Nachwuchsperspektiven verantworteten Teil wurde versucht, mit Hilfe von Expert*innen aus der Klassismus- und Hochschulforschung für mehr Aufmerksamkeit für das Klassismus-Problem im Fach Musikwissenschaft zu werben.[9]
Insbesondere im englischen Sprachraum wird auch in Musikwissenschaft und Musiktheorie aktuell eine heftige Debatte zur „Dekolonisierung“ geführt.[10] Scheinbar unversöhnlich stehen sich darin zwei Lager gegenüber. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die dem Kanon insbesondere der „klassischen Musik“ koloniale Strukturen vorwerfen, während die Gegenseite das ‚Abendland‘ in seinen Grundfesten bedroht sieht und vor der sogenannten „Cancel Culture“ retten will.[11] An dieser Stelle soll nicht näher auf die hitzige Diskussion eingegangen werden, die sich unter anderem an der Gestaltung von Lehrplänen entzündet hat. Ein Argument erscheint aber gerade im Licht des Intersektionalitätsdiskurses erwähnenswert. Im Jahr 2021 veröffentlichte der Musikwissenschaftler J. P. E. Harper-Scott einen Blogbeitrag mit dem Titel „Why I left academia“, der in der englischen Fachcommunity für Aufsehen sorgte. In seinem Text begründet er seine Entscheidung, den Wissenschaftsbetrieb hinter sich zulassen, mit der Beobachtung: „I wrongly supposed that universities would be critical places, but they are becoming increasingly dogmatic“. Als „dogmatisch“ beschreibt er jene Wissenschaftler*innen, die fordern, den klassischen Kanon zu „dekolonisieren“. Sie seien „dogmatic by virtue of form, not content”. Harper-Scotts Position ist auf den ersten Blick kaum außergewöhnlich. Die Argumentation basiert jedoch auf einer bemerkenswerten Vorannahme, denn der Autor führt seine soziale Herkunft als Argument ins Feld: „I entered the profession as an outsider, from a social class that put me distinctly at odds with the sensibility, taste, and attitude to work that characterize the discipline of musicology perhaps even more than other scholarly disciplines”. Besonders beachtlich ist eine autobiographische Bemerkung wenige Absätze später, in der er über den klassischen Kanon und seine eigene Position in der britischen Gesellschaft schreibt: „I discovered, largely through this music, that the world was far bigger than I thought, fuller of beauty and majesty and possibilities for fulfilment. It transported me, to oversimplify things a little, from starting school on free school meals to being a full professor in my late 30s”. Harper-Scott schreibt der Musik hier eine beträchtliche soziale Wirkmächtigkeit zu. Sie habe das Potential, einen jungen Mann aus der Arbeiterklasse nach ganz oben im akademischen Betrieb zu führen, wenn er die nötigen Anstrengungen auf sich nehme. Es ist mehr als fraglich, ob alle Menschen aus ähnlichen sozialen Milieus das gleiche Glück wie Harper-Scott hätten, selbst wenn sie sich intensiv genug mit Musik beschäftigen würden. Die Argumentation des Musikwissenschaftlers legt ein grundlegendes Problem des Intersektionalitätsdiskurses offen: Nicht selten werden verschiedene Ebenen der Diskriminierung argumentativ gegeneinander ausgespielt. Sie treten miteinander gewissermaßen in Konkurrenz, anstatt im Zusammenhang betrachtet und diskutiert zu werden.
Um die Frage klassistischer Strukturen mit Blick auf das Fach Musikwissenschaft angemessen diskutieren zu können, bedarf es einer besseren Datenbasis. Weder im Bereich der Studierendenschaft noch im Bereich der Forschenden steht ausreichend Datenmaterial zur Verfügung, um belastbare Aussagen zu strukturellen Fragen in der Disziplin treffen zu können. Die Veranstaltung der Fachgruppe Nachwuchsperspektiven in Berlin im Jahr 2022 hat aber gezeigt, wie grundlegend das Thema „Klasse“ für das Nachdenken über die Gegenwart und Zukunft des Fachs Musikwissenschaft ist.
Zu den Personen: Moritz Kelber vertritt derzeit die Professur für Musikwissenschaft an der Universität Augsburg, Pascal Rudolph ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Musik Nürnberg.
[1] Dieser Text basiert auf der Einführung zum Symposium „Klassendiskriminierung in der Musikwissenschaft“ der Fachgruppe Nachwuchsperspektiven der Gesellschaft für Musikforschung im Rahmen der Jahrestagung 2022. Das Organisationsteam, auf das auch die Formulierung des Einführungstexts zurückgeht, auf dem dieser Beitrag beruht, bestand aus Patrick Becker-Naydenov, Maria Behrendt, Barbara Dietlinger, Moritz Kelber, Shanti Suki Osman und Pascal Rudolph. Für ihre wertvollen Hinweise zu diesem Text danken wir Sebastian Bolz, José Galvez, Verena Liu und Steffen Just.
[2] Andreas Kemper, „Gegen die Missachtung von Armut. Interview mit dem Soziologen Andreas Kemper“, in: Theorie und Praxis der sozialen Arbeit 1/2020, S. 11–17.
[3] Steffen Just, „Pop-Stars mit Klasse. Diversity und neoliberaler Klassismus im zeitgenössischen Pop“, in: Samples 19/2021, S. 2.
[4] Francis Seeck und Brigitte Theißl (Hrsg.), Solidarisch gegen Klassismus. Organisieren, intervenieren, umverteilen, Münster 2020; Markus Gamper und Annett Kupfer, Klassismus, Bielefeld 2023.
[5] Der Absatz bezieht sich insb. auf S. 13 sowie S. 86–92 des Reports.
[6] Mike Laufenberg, „Soziale Klassen und Wissenschaftskarrieren. Die neoliberale Hochschule als Ort der Reproduktion sozialer Ungleichheiten“, in: Wissen – Organisation – Forschungspraxis. Der Makro-Meso-Mikro-Link in der Wissenschaft, hrsg. von Nina Baur, Cristina Besio, Maria Norkus und Grit Petschick, Weinheim 2016, S. 580–625.
[7] Pierre Bourdieu, Die verborgenen Mechanismen der Macht (= Schriften zu Politik & Kultur 1), Hamburg 1992.
[8] Anna Bull, Class, Control, and Classical Music, Oxford 2019.
[9] Riccardo Altieri erläuterte in seinem Vortrag die Begriffsgeschichte und zeigte, wie sehr das Denken und Sprechen im Wissenschaftsbetrieb von klassendiskriminierenden Mustern durchzogen ist. Kathrin Meißner präsentierte aktuelle Zahlen zu den Auswirkungen klassistischer Strukturen auf den Bildungsbereich und machte gleichzeitig deutlich, dass es keine belastbaren Daten gibt, die Aufschlüsse über das Fach Musikwissenschaft geben. Anna Bull berichtete schließlich aus ihrer Forschung zu Diskriminierungsmechanismen in der Musikausbildung in Großbritannien.
[10] Zuletzt: Philip Ewell, On Music Theory, and Making Music More Welcoming for Everyone, Ann Arbor 2023. Zum „Schenkergate“ in Deutschland vgl. Susanne Westenfelder für musiconn.kontrovers.
[11] Vgl. dazu auch die Beiträge von Alexander Rehding und Björn Heile auf musiconn.kontrovers.
Ein Kommentar
Wenn, oder solange, es eine klassistische Spaltung der Bildung und damit gerade der Hochschulbildung gibt, ist unausweichlich auch die Musikwissenschaft klassistisch geprägt. Da braucht man gar nicht nach Spezifika des Faches suchen. Kann man aber durchaus und ich bin sicher, die Autoren hätten auch einiges finden können.
Die Betrachtung der abendländischen Musikgeschichte etwa ist nach wie vor fast ausschließlich eine der höfischen und bourgeoisen Musikkultur. Ausnahmen bilden in Teilen die Popmusikforschung, die Musikethnologie und zu wenige Beiträge aus der Musiksoziologie. Zwar sind Diversity und Dekolonisierung nun auch in der Musik(wissenschaft) trendende programmatische Schlagworte geworden. Allerdings kann die Suche nach Diversität wiederum nur eine exkludierende bleiben, wenn sie soziale Benachteiligung übersieht bzw. ignoriert, die nicht in einem direkten Zusammenhang mit der Hautfarbe oder Genderidentität steht. Um einem Missverstehrn vorzubeugen: Dieser Hinweis will hier nicht das eine gegen das andere ausspielen, sondern allein eine Fehlstelle herausstreichen – wenn man so will, eine Blindheit für die Klassenperspektive.
Ein anderer, wenn auch durchaus verwandter, Punkt wäre der Sprachgebrauch. Nun war dieser in den Geisteswissenschaften zwar schon immer gerne ein wenig mehr distinkte Prahlerei als unbedingt ein Ausweis origineller Gedankenführung (etwa die unnötigen Latinismen in der Schreibe der älteren Generation). Kurioserweise treibt aber gerade die Verschiebung des Fokus auf die Diversitätsthemen eine neue Art überakademisierter Stilblüten hervor, die der sprachlichen Exklusivität, und damit auch sozialer Abgrenzung, vergangener Tage nicht nachsteht. Nur – diese Spitze, etwas außerhalb des Themas, sei mir erlaubt – dass heute nach einer Lichtung des sprachlichen Dickichts nicht selten deutlich weniger gedankliche Substanz übrig bleibt.