Musik- und Medienedition im Digitalen Zeitalter: Brauchen wir einen neuen Editionsbegriff?
Ich möchte Sie einladen, eine strategische Perspektive auf den Bereich der Musik- und Medienedition einzunehmen und eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie sich unser Editionsbegriff in den kommenden Jahren des sogenannten digitalen Zeitalters weiter entfalten könnte. Dazu erörtere ich zunächst einige allgemeine Aspekte der Edition (ich fokussiere dabei auf Musikedition, werde schließlich aber beim Begriff der Medienedition landen), um anschließend auf aktuelle Bedingungen im Umfeld der digitalisierten Wissenschaftspraxis zu sprechen zu kommen und Vergleiche zu den Entwicklungen im Bereich der Textedition zu ziehen. Daraus resultieren mehrere Punkte, die es bei der zukünftigen Konzeption von Musik- und Medieneditionen zu berücksichtigen gilt.
1. Edition?
1.1 Sinn und Zweck von wissenschaftlichen Editionen
Ein Anspruch der wissenschaftlichen Musikedition besteht darin, historische Werke oder Quellendokumente der Musik kritisch zu erschließen und langfristig allgemein verfügbar zu machen. Erwartet wird die Verlässlichkeit des Notentextes vor dem Hintergrund der vorhandenen Überlieferung und deren transparente Darstellung, erarbeitet nach wissenschaftlichen Methoden. Die Ansprüche der Musikpraxis und der Wissenschaftspraxis können dabei divergieren, insofern können insbesondere gedruckte Ausgaben, wenn sie nicht in zweckunterschiedlichen Fassungen erscheinen wollen, eine Gratwanderung, das heißt: editorische Herausforderung darstellen. Erwartet wird zudem eine Kommentierung, die nicht nur die Quellensituation erörtert, sondern auch Notationsformen reflektiert und Rückschlüsse auf historische Musizierpraktiken erlaubt. Musikeditionen stellen daher nicht nur einen Selbstzweck für die Musikwissenschaft dar, sondern sie sorgen vor allem dafür, dass das musikalische Kulturerbe sowohl durch Studium als auch durch Aufführung vergegenwärtigt werden kann. Eine bedeutende Rolle spielen dabei die Musikverlage, die als Agenten zwischen Editionsprojekten und verschiedenen Zielgruppen agieren. Zusätzlich entstehen zum einen durch neue Editionsgegenstände und zum anderen durch einen erweiterten Begriff von Musikkultur neue Ansprüche und Anforderungen.
1.2 Veränderlichkeit des Editionsbegriffs
Der Begriff der Edition hat sich immer wieder verändert und auf neue Bereiche ausgedehnt. Unter dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit und Zuverlässigkeit hat sich die Musikedition – im Unterschied zu alltäglichen Gebrauchsnoten, bei denen die Qualitätsstandards oft niedriger angesetzt werden – zu einem Instrumentarium von verschiedenen Methoden entwickelt, deren Einsatz nach Gegenstand und Zielen des Editionsvorhabens abzuwägen ist. Die einstige Polarisierung zwischen der Ausgabe erster oder letzter Hand scheint inzwischen dem Fokus auf Prozesse gewichen zu sein: Kompositionsskizzen beispielsweise erlauben es, den Blick gezielt auf die Werkgenese zu richten, während spätere Bearbeitungen oder Arrangements den Einbezug der kompositorischen Rezeptionsgeschichte ermöglichen. Auch historische Aufführungspraktiken werden beispielsweise anhand von Eintragungen in Stimmauszügen verfolgbar. Das Edendum löst sich somit von der Bindung an einen klassischen, man darf sagen: monolithischen Werkbegriff und erweitert sich zu einem fluiden Konzept mit unterschiedlichen Aggregatzuständen.
1.3 Wechselwirkung mit Musikpraxis und Verlagswesen
Die in einer wissenschaftlichen Ausgabe notwendigen Abbildungsmethoden wie etwa kritische Apparate stellen für die Musikpraxis allerdings oft eine Überforderung dar[1] und bedienen eher akademische Interessen, weshalb sie vorzugsweise in separaten Bänden publiziert werden. Wenn das Ergebnis des Editionsprozesses nicht genau ein Notentext, sondern viele mögliche Notentexte sind, fordert das Benutzbarkeit und Verlegbarkeit heraus. Insofern stellt sich die Frage, welche medialen Wege und Möglichkeiten bestehen, um Wissenschaft und Praxis einander näher zu bringen. Der fluide Werkbegriff – wichtig aus Sicht der Wissenschaft – ist weder für die Musikpraxis noch für Musikverlage einfach handhabbar. Durch diese außerwissenschaftlichen Interessen und Ansprüche gerät die Musikedition in ihrer bisherigen medialen Form an ihre Grenzen.
1.4 Gesellschaftliche Veränderungen als weitere Einflussfaktoren
Betrachten wir die Entwicklung der Musikkultur der letzten fünf Jahrzehnte und die damit angelegten zukünftigen Forschungsfelder der Musikwissenschaft und Gegenstände der Musikedition, ist festzustellen, dass die Auffassung von einer musikalischen „Hochkultur“, die im Bereich der Musikedition zu einer Vorauswahl des Erhaltenswerten führt,[2] tendenziell einem offenen Kulturbegriff weicht, in welchem erstens die klassische, zweitens die westliche und drittens die männliche Musikkultur nicht mehr zwangsläufig allein im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Es stellt sich zudem die Frage, inwieweit die westliche Musiknotation – jenseits ihres Wertes als lingua franca, den sie derzeit zweifellos hat – auch künftig noch ausreichend sein wird, um die Vielfalt musikalischer Kultur hinreichend abzubilden.
Durch die fortschreitende Dekanonisierung im Kulturbereich einerseits und Öffnung für Diversität andererseits rücken zudem weitere Gesellschaftskreise in den Fokus des Interesses der Musikforschung und letztlich auch der Musikedition. Beispielsweise kann der Bereich der historischen Musikpädagogik und Musikerziehung, der lange völlig unterbelichtet war und in der Frauen eine entscheidende Rolle einnahmen, durch Editionen von Instrumentalschulen und Spielliteratur unterstützt werden. Zudem wird musikalisches Schaffen stärker als Teil seiner jeweiligen Kontexte wahrgenommen, was den Fokus von der künstlerischen Qualität musikalischer Werke auf ihre Semantik und Funktion in einem Gesamtbild verlagert. Das kann bedeuten, dass Faktoren der Performance und der Rezeption stärker in Editionen einbezogen werden – und dabei auch historische Konzertkritiken sowie überlieferte Ton- und Bildaufnahmen integriert werden könnten.
1.5 Was nun?
Während einerseits die Erweiterung des Edendums nur wünschenswert sein kann, scheinen diese Entwicklungen den herkömmlichen Editionsbegriff vollkommen zu sprengen. Kann die Musikedition die eingangs genannten Ansprüche von Wissenschaft, Musikpraxis und Verlagswesen unter diesen erweiterten Rahmenbedingungen überhaupt noch bedienen?
2. Edition im Digitalen Zeitalter?
2.1 Digitale Workflows von Musikeditionen
Das Aufkommen der Digitalität hat den Bereich der Editionen auf verschiedenen Feldern grundlegend verändert. Dies bezog sich zunächst nur auf die Arbeitsmethoden: Der Einsatz von Notensatzprogrammen ist mittlerweile selbstverständlich und auch unumgänglich, zudem ist es mit standardisierten Datenformaten wie MEI möglich, textkritische Elemente nachvollziehbar, nachhaltig und nachnutzbar abzulegen. Während Noten aus aufführungspraktischen Erwägungen weiterhin gedruckt oder zum Ausdrucken erscheinen, existieren etwa mit Verovio auch passende Werkzeuge, den kodierten Editionstext im Browser abzubilden und damit prinzipiell auch online-abrufbare Musikeditionen zu erstellen.
2.2 Digitale Paradigmen
Als entscheidendes Paradigma der Digitalität hat sich die Trennung von Präsentation und Repräsentation bewährt: Eine digitale Musikedition wird grundsätzlich in Form von Daten repräsentiert, die für die Präsentation weiterverarbeitet werden. Auch wenn das Bearbeiten auf grafischen Benutzeroberflächen suggeriert, dass das Prinzip „what you see is what you get“ (WYSIWYG) zugrunde liegt, ist die tatsächliche Grundlage der Weiterverarbeitung immer die dahinterliegende MEI-Codierung, die auf dem Prinzip „what you see is what you mean“ (WYSIWYM) beruht, und die je nach Präsentationsform – etwa Print oder Online – unterschiedlich weiterverarbeitet werden kann. Dies wurde u.a. in den MEI-basierten Editoren MEISE, Verovio Editor und MEI-Friend konsequent umgesetzt.



(1) MEI Score Editor (MEISE), (2) Verovio Editor, (3) MEI-Friend. Alle drei Umgebungen basieren auf MEI und nutzen die Bibliothek „Verovio“ für den Notensatz. Screenshots: 28.06.2023.
Im Bereich der Musik ist dies nicht trivial, da die auf einer Papierseite notierte Musik eine visuelle gedankliche Einheit ist, die mnemotechnisch als Referenzpunkt schon bei der Lektüre und insbesondere in der Praxis eine wichtige Rolle spielt und auf die man nicht einfach verzichten kann, wie man im Hypertext auf die „Seite“ verzichtet hat. Die Frage der zukünftigen Benutzungsszenarien für Online-Musikeditionen ist deshalb noch relativ offen. Während man in der professionellen Musikpraxis mit digitalen Lesegeräten durchaus gute Erfahrungen macht, sei es mit flexiblen Seitenumbrüchen, mit horizontalem Scrolling oder mit Unterstützung durch Blätterpedale, gestaltet sich dies im Bereich der Laienmusik – eine nicht minder wichtige Zielgruppe – aufgrund der oft heterogenen Voraussetzungen schwieriger: Denn selbst unter Berücksichtigung aller Möglichkeiten, die durch Responsivität der Lesegeräte gegeben sind, sind die notwendigen Mindeststandards in der Realität kaum durchsetzbar.
Andererseits erlaubt gerade die Trennung von Daten und Präsentation, unterschiedliche Ausgaben für unterschiedliche Anforderungen herzustellen. Diese Praxis ist im Printbereich eigentlich ebenso üblich, nur würde in einem digitalen Workflow eher an einer einzigen Quelldatei (Prinzip single source) gearbeitet, die dann nach unterschiedlichen Anforderungen gerendert bzw. gesetzt wird. Idealerweise könnten aus einer einzigen Datei wahlweise komplexe Apparate visualisiert oder einfache Stimmauszüge erstellt werden. Die Derivate könnten zudem sowohl für Print- als auch für Online-Ausgaben erzeugt werden, und es ist prinzipiell denkbar, dass die Nutzer:innen der Ausgaben selbst auswählen und konfigurieren können, welche Parameter sie in der ausgegebenen Version berücksichtigt sehen wollen. Das alles ist leichter gesagt als getan, aber die technischen Möglichkeiten zur Dynamisierung von Editionen liegen vor.
2.3 Vergleich mit digitalen Texteditionen
Richten wir den Blick auf das Gebiet der digitalen Texteditionen, wo dies längst Praxis ist. Im Vergleich entspricht der Stand der digitalen Musikedition ungefähr dem der digitalen Textedition vor zehn bis fünfzehn Jahren, was keinesfalls abwertend zu verstehen ist: Der Textbereich ist nicht nur deutlich größer, sondern auch schon erheblich länger aktiv. Dort ist die Diskussion um geeignete digitale Arbeitsinstrumente und dynamische Publikationen weitgehend geklärt. Als Datenformat hat sich schon vor langer Zeit TEI etabliert,[3] das sowohl von Editionsumgebungen als auch von Publikationsplattformen und Analysetools breit unterstützt wird. Hinsichtlich der oft sehr individuellen Kodierungs- und Verarbeitungsmethoden zeichnet sich auf mehreren Ebenen eine gewisse Konvergenz ab, die zu einer Stabilisierung des Gesamtsystems beiträgt.[4] Zudem besteht längst eine breite Akzeptanz von Online-Publikationen unter offenen und Open-Access-konformen Lizenzen, letzteres allerdings nicht zuletzt durch die entsprechende Einforderung durch Drittmittelgeber. Noch nicht abschließend gelöst, aber unter anderem durch die NFDI-Konsortien (hier insbesondere Text+, für den Musikbereich hingegen 4Culture) in Behandlung ist indessen die Frage nach der Langzeitverfügbarkeit der aktuellen Online-Angebote.
Der Bereich der digitalen Musikedition steht perspektivisch vor vergleichbaren Herausforderungen und Ansprüchen. In den nächsten zehn Jahren würde ich dort mit analogen Entwicklungen zur digitalen Textedition rechnen. Für die digitale Musikedition haben wir jetzt den Vorteil, dass ein Teil der Herausforderungen – die nicht musikeditionsspezifisch sind – durch die Erfahrungen der digitalen Textedition antizipierend angegangen werden können.
2.4 Menge des digital verfügbaren Materials
Im Bereich der Textedition ist außerdem zu beobachten, dass durch eine immense und weiterhin stark wachsende Menge an digitalisiertem Quellenmaterial neue Methoden der Erschließung nötig und neue Formen der Auswertung erst möglich werden.
Denn die Digitalisierung hört nicht mit der Bereitstellung hochauflösender 2D- oder 3D-Scans auf. Wenn etwa die Anzahl der verfügbaren Quellen durch bewährte Erschließungsmethoden pragmatisch nicht mehr handhabbar ist, können digital basierte Erschließungsverfahren wie Optical Character Recognition (OCR) und Handwritten Text Recognition (HTR) den Prozess auf der Grundlage von Machine-Learning-Modellen stark unterstützen.[5] Für den Bereich der Optical Music Recognition (OMR) ist noch mit vergleichbaren Entwicklungssprüngen zu rechnen.[6] Analytische Methoden können die so erschlossenen Texte zudem semantisch annotieren: Gängig in der Textwissenschaft sind beispielsweise Named Entity Recognition (NER) und Named Entity Linking (NEL). Im Bereich der Notation ist denkbar, dass automatische Analysen z.B. von Akkorden und -verbindungen die Notenerschließung verifizieren helfen oder analytisch relevante Merkmale identifizieren. Es liegt nahe, dass bereitstellende Institutionen von sich aus zukünftig verstärkt Angebote in dieser Richtung machen werden, so dass Digitalisaten möglicherweise automatisch erstellte Textausgaben mit Registern beigestellt werden, die für die Recherche oder auch von konkreten Editionsvorhaben als Ausgangsmaterial genutzt werden können. Die kritische Edition würde dann an einem ganz anderen Punkt beginnen als zuvor. Zudem bestehen im Textbereich weitreichende Erfahrungen mit Analysemethoden wie Topic Modeling und Stilometrie, die ebenfalls prinzipiell auf Musik übertragbar sind.[7]
Auch die Einbindung von Citizen Scientists erscheint angesichts der schieren Menge an Digitalisaten durchaus sinnvoll und könnte zudem für eine breitere Akzeptanz der musikwissenschaftlichen Editionsarbeit sorgen. Citizen Scientists wurden bereits in zahlreichen Texteditionsprojekten eingesetzt – dort existieren einige sehr erfolgreiche Ansätze[8] – und könnten gerade im Bereich der Musik zu einer nicht zu unterschätzenden Aktivität führen. Mitmachprojekte stellen allerdings mit Hinblick auf die Qualitätssicherung in vielen Augen eher eine Gefahr als eine Chance dar. Dabei könnte eine für Citizen Scientists offene und integrative Editionswerkstatt gerade in größer angelegten Projekten ein entscheidender Teil einer Public-Relations-Strategie sein.
2.5 Editionsdesign
Die Menge an digitalisiertem Quellenmaterial suggeriert aber auch neue Editionsdesigns. Es wird, die entsprechende Erschließungstiefe vorausgesetzt, möglich, den Blick auf größere Kontexte zu richten, womit der traditionelle Gegenstand der Musikedition – das Gesamtwerk einzelner Persönlichkeiten – in den Hintergrund rückt und indessen die künstlerische Produktion in größeren Zusammenhängen – wie etwa in Kompositionsschulen, Künstlerverbänden oder Bühnen – in Reichweite der Editionen steht. Damit rückt auch die Frage in den Vordergrund, was das für eine Edition ausgewählte Material überhaupt repräsentiert und inwieweit das Korpus angemessen zusammengestellt ist. Zudem wird es im digitalen Medium erst praktikabel, Musikeditionen auch mit Performance-Dokumenten zu verbinden, etwa durch Nutzung von Ton- und Bildaufnahmen und Integration von 3D-Modellen von Bühnenräumen. Insgesamt würde sich damit das Edendum der Musikedition in gewaltigem Maß erweitern. Der Begriff der Musikedition könnte perspektivisch in einem allgemeineren Begriff von Medienedition aufgehen, im Sinne des Manifests für digitale Editionen: „Die Grenzen der Edition liegen nicht an den Grenzen von Werken“ (§2).
3. Was braucht die Musikedition im kommenden Jahrzehnt?
Die Musikedition wird sich durch die Orientierung an digitalen Paradigmen stärker datenzentriert aufstellen. Dies impliziert eine allmähliche Konvergenz nach MEI, dessen weitere Verbreitung und eine verstärkte Interoperabilität der verschiedenen musikbezogenen Datenformate (wie MusicXML, musedata oder humdrum) einschließlich der entsprechenden ODD-Konzepte.[9] Daraus resultieren zum einen eine höhere Flexibilität hinsichtlich der Publikationsformen, Zielgruppen und Nachnutzungsarten und zum anderen weitreichende Möglichkeiten, Daten in das Linked Open Data Network zu integrieren. Dieser Weg wird bislang vor allem auf der Ebene der Metadaten beschritten, kann prinzipiell aber auch auf Musiknotation ausgedehnt werden.[10] Dazu sind sukzessive die entsprechenden Vokabulare und Ontologien über die bibliothekarischen Schlagwortsysteme hinaus zu entwickeln.
Bedeutend ist zudem die Anerkennung digitaler Musikeditionen als dem Druck in Qualität und Nutzbarkeit mindestens gleichwertige Publikationsform. Dies kann beispielsweise durch den Aufbau eines Rezensionswesens geschehen. Im Textbereich etablierte sich international das Rezensions-Journal RIDE, das seit etwa zehn Jahren existiert. Mögliche Standorte für die Rezension digitaler Musikeditionen wurden zumindest ansatzweise auf dem musiconn.kontrovers-Blog diskutiert.
Es bedarf außerdem solider Konzepte hybrider Publikationsformate, die im Print- und Onlinebereich die Stärken des jeweiligen Mediums ausreizen, ohne zu konkurrieren und ohne die Nutzungsszenarien von Musikeditionen durch Abhängigkeiten unnötig einzuschränken. Im Textbereich besteht eine Tendenz, die Edition vollumfänglich online abzubilden, während die Printausgabe inzwischen auf den Lesetext reduziert wird. Für den Musikbereich könnten sich ähnliche Modelle etablieren.
Dies hängt letztlich auch mit passgerechten Lizenz- und Geschäftsmodellen zusammen, die sich anhand der Frage klären werden, wer zukünftig für die Verfügbarkeit von digitalen Musikeditionen verantwortlich sein wird: Sind dies die Institutionen hinter den Editionsprojekten – die dann eine entsprechende Abteilung als langfristigen Garant bräuchten – oder können Musikverlage die bestehenden Anforderungen erfüllen? Das bisherige Verhältnis zwischen den Aufgaben der Musikwissenschaft und den Aufgaben der Musikverlage wird für die wissenschaftliche digitale Musikedition neu zu arrangieren sein. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine offene Kultur- und Wissenschaftspraxis weitgehend niederschwellige und möglichst schrankenfreie Zugänge zu wissenschaftlich erschlossenem Kulturgut erfordert, insbesondere wenn sie durch die öffentliche Hand finanziert wird. Lässt sich unter diesen Voraussetzungen eine neue Kompetenzverteilung arrangieren?
Abschließend zurück zur Frage nach dem Editionsbegriff. Sollte sich die Edition medial als Konzept öffnen und sich hin zu einer generischen Methode der Erschließung von Kulturgütern entwickeln, hieße das für die Musikedition, dass sie sich zukünftig häufiger in größeren Zusammenhängen bewegen wird. Zu den herkömmlichen Formaten wie beispielsweise „Gesamtausgaben“ werden sich Editionsprojekte mit neuen Zielvorstellungen gesellen, mit einer zunehmenden medialen Vielfalt sowohl hinsichtlich der Editionsgegenstände als auch hinsichtlich der Publikationsformate von Editionen. Forschungsfördernde Institutionen können hierfür zielführende Rahmenbedingungen setzen.
Zur Person: Torsten Roeder betreut den Bereich Digitale Editionen am Zentrum für Philologie und Digitalität der Universität Würzburg und ist Mitglied des Instituts für Dokumentologie und Editorik. Dieser Blogbeitrag beruht auf dem Manuskript zu einem hochschulöffentlichen Vortrag an der Hochschule für Musik Detmold im März 2023.
[1] Vergleichend lassen sich die Erfahrungen aus dem Bereich der Textedition heranziehen, siehe dazu z.B. Rüdiger Nutt-Kofoth: „Wie werden neugermanistische (historisch-)kritische Editionen für die literaturwissenschaftliche Interpretation genutzt?“, editio / Beihefte 39: Vom Nutzen der Editionen, 2015, 10.1515/9783110418255-018; Franz Fischer: „Digital Classical Philology and the Critical Apparatus“, in Digital Classical Philology (= Age of Access? Grundfragen der Informationsgesellschaft 10), hg. von Monica Berti, 2019, 10.1515/9783110599572-012.
[2] Das „Kanonproblem“ persistiert Mark Hall zufolge auf dem Gebiet der Digital Humanities (vgl. Mark Hall: „DH is the Study of dead Dudes“, DHd 2019, 16. März 2019, 10.5281/zenodo.4622026).
[3] Zur Geschichte der TEI siehe Text Encoding Initiative: History, https://tei-c.org/about/history/.
[4] Etwa durch das TEI-basierte DTA-Basisformat, siehe https://www.deutschestextarchiv.de/doku/basisformat/. [5] Zu nennen sind hier insbesondere die niedrigschwellig angelegten Tools OCR4all und Transkribus.
[6] Im Kontext von Edirom wurden einige hilfreiche Tools geschaffen, die Teilschritte des OMR abdecken, z.B. die CartographerApp zur Taktsegmentierung. Für den Bereich mittelalterlicher Musiknotation entstand an der Universität Würzburg das Tool OMMR4all. [7] Zur technischen Einführung siehe z.B. Shawn Graham, Scott Weingart und Ian Milligan: Getting Started with Topic Modeling and MALLET, Programming Historian, 3. Sept. 2021, https://programminghistorian.org/en/lessons/topic-modeling-and-mallet; François Dominic Laramée: Introduction to stylometry with Python, Programming Historian, 3. Februar 2023, https://programminghistorian.org/en/lessons/introduction-to-stylometry-with-python.
[8] International kann das Projekt From the Page von Ben and Sara Brumfield als wegweisend angesehen werden. Für den deutschsprachigen Raum vgl. Stört, D.; Schuster, F.; Hermannstädter, A. (2023): Partizipative Transkriptionsprojekte in Museen, Archiven und Bibliotheken, Museum für Naturkunde Berlin (MfN) – Leibniz Institute for Evolution and Biodiversity Science, 10.7479/szm4-fs62. [9] „One Document Does it All“, vgl. https://tei-c.org/guidelines/customization/getting-started-with-p5-odds/ und dessen Transfer in den MEI-Kontext: https://music-encoding.org/tutorials/understanding-odd.html.
[10] In dieser Hinsicht lohnt sich ein Blick auf das Framework Music Encoding and Linked Data (MELD).
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