Musik in der digitalen Ära
Welche Rolle spielt Musik als Teil digitaler Kultur in Ihrer Wahrnehmung und im aktuellen Fachdiskurs?
Obwohl sich das Feld der Historischen Musikwissenschaft auf Phänomene aller Musikepochen richtet, sind natürlich auch aktuelle Entwicklungen der Musikkultur im Blick der Forschung. Dass sich in der und durch die digitale(n) Ära eine profunde Transformation von Musikproduktion, -rezeption und insbesondere -distribution vollzogen hat, ist unumstritten, und entsprechend richtet sich die Forschung gerade der letzten Jahre stärker auf diese Problematiken, wie auch am Programm der Jahrestagungen der Gesellschaft für Musikforschung 2022 in Berlin und 2023 in Saarbrücken zu sehen ist.
Gleichzeitig würden sicherlich viele unserer Fachvertreter*innen – ich auch! – vehement eine Kategorisierung von Musik – um die Frage einmal zu überspitzen – nur als Teil oder gar Unterkategorie digitaler Kultur verneinen wollen. Dass Musik aber in der und für die digitale(n) Kultur eine zentrale Rolle spielt, ist sicher unbestreitbar: die Plattform TikTok ist hierfür das aktuellste Beispiel.
Welche spezifischen Herausforderungen begegnen Ihnen durch den digitalen Forschungsgegenstand?
Meine Überlegungen kommen aus der Historischen Musikwissenschaft und aus der Musiksoziologie. Als historische Musikwissenschaftlerin betreibe ich üblicherweise keine „computergestützte Forschung“ (wie dies Martin Pfleiderer und Fabian Moss beschreiben). Dass auch hier die Grenzen zwischen ‚historisch‘ und ‚systematisch‘ verschwimmen, zeigen die Forschungen in der (historischen) Aufführungspraxis, wo Softwares zur Datenauswertung wichtige Tools für bestimmte Fragestellungen sind, wie Julian Caskel anführt.
Als Musiksoziologin beschäftige ich mich weniger mit Fragen von technischer Umsetzbarkeit, sondern ich möchte wissen, wie sich Gesellschaften mit neuen Technologien gemeinsam entwickeln (Noortje Marres 2017). So fragt eine ‚Musiksoziologie des Digitalen‘ danach, wie sich in der digitalen Ära Präsentation und Rezeption von Musik sowie das Verhältnis von Aktant*innen, Kommunikation, Ökonomien und Aufführungspraxen verändern. Darum geht es in meinem aktuellen Projekt, und diese Fragen haben wir uns auch auf unserer Koblenzer Tagung „Rollen und Funktionen von Musik in der digitalen Ära“ im Juni 2022, die ich gemeinsam mit Wolfgang Fuhrmann und Veronika Keller organisiert habe, gestellt.
Inwieweit verändert ein digitaler Forschungsgegenstand unser Fach?
Auch die Musikwissenschaft passt in phänomenzentrierten Untersuchungen ihre Methoden an die untersuchten Gegenstände an. Zwar hat die digitale Ära, wie angeführt, tiefgreifende Umwälzungen auch für die Musik gebracht, diese verändern meines Erachtens aber nicht das Fach an sich, sondern erweitern unsere Perspektive.
Inwieweit spielen digitale Aspekte in Ihrer Lehre eine Rolle?
Die universitäre Lehre musste durch die Pandemie sehr schnell digitale Tools integrieren, was auf einer technischen Seite auch gut gelungen ist. Dass eine allein digitale Lehre informelle Kommunikation und intuitives Lernen beschränkt und auch die Motivation der Studierenden beeinträchtigt, wurde uns allerdings deutlich zurückgespiegelt (die Anwesenheiten in den Seminarräumen waren nie so gut wie nach der Pandemie). Aktuell nutzen wir in Koblenz weiterhin die digitale Lernplattform OpenOlat, um Materialien für die Seminare bereitzustellen. Natürlich ist es vorteilhaft, bspw. kranken Studierenden eine Online-Teilnahme an den Seminaren ermöglichen zu können. Darüber hinaus ist jedoch das Gros der Lehre wieder in den nicht-digitalen Raum zurückgekehrt, was sowohl die Lehrenden als auch die Studierenden erleichtert und uns unsere Interaktionen neu schätzen lässt.
Das Telos meiner eigenen Forschungen hat sich insofern nicht durch „digitale Aspekte“ geändert, als alle Wissenschaftler*innen ja immer auch auf aktuelle Strömungen und Diskussionen reagieren. Insofern ist meine Beschäftigung mit dem Thema ‚Musik in der digitalen Ära‘ nur folgerichtig.
Wie kann man den wissenschaftlichen Nachwuchs auf digitale Forschung vorbereiten?
Ich möchte dafür plädieren, dass wir über das Einführen in technische Voraussetzungen und Tools hinaus den Nachwuchs vor allem dazu anleiten, das eigene digitale Tun zu hinterfragen und zu reflektieren.
Zur Person: Corinna Herr ist Sprecherin der GfM-Fachgruppe Soziologie und Sozialgeschichte der Musik und Professorin für Musikwissenschaft an der Universität Koblenz.
Literatur
Noortje Marres, Digital Sociology: The Reinvention of Social Research, Cambridge, UK etc. 2017.
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