Editorial: Mittel, um Gräben zu überwinden? Oder kocht doch jede:r die eigene Suppe?
Der Aufbau der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI), begonnen im Jahr 2020, ist ein politisch gewolltes und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördertes Großprojekt, mit dem Ziel, die Digitalisierung voranzutreiben und über alle Wissenschaftsbereiche miteinander vernetzte und kompatible Infrastrukturen für Forschungsdaten bereitzustellen.
Für die Wissenschaften, die sich mit materiellem und immateriellem Kulturerbe beschäftigen, ist NFDI4Culture – ein von neun Institutionen getragenes Konsortium – angetreten, um Services und Infrastrukturbausteine zur Verfügung zu stellen.[1] Wie alle Konsortien bewegt sich NFDI4Culture mit seinen Aktivitäten zwischen konkreten Hilfestellungen – wie beispielsweise der Antragsberatung für Einzelprojekte im NFDI4Culture Helpdesk – und der großen strategischen Ausrichtung an übergeordneten internationalen Strukturen, wie der European Open Science Cloud und die Anbindung an diese. Um die Fächer optimal zu unterstützen und die Interessen möglichst passgenau zu vertreten, versucht NFDI4Culture durch verschiedene Formate aktuelle Entwicklungen und Bedarfe zu verstehen.
Vor diesem Hintergrund haben wir Vertreter:innen aus verschiedenen musikbezogenen Forschungsbereichen – unter anderem der computergestützten Musikanalyse, der Musikethnologie, der Musiksoziologie und der Historischen Musikwissenschaft – zu einem Austausch eingeladen.[2] Wir haben danach gefragt, was Digitalität in ihren unterschiedlichen Facetten für das Fach Musikwissenschaft bedeutet. Dabei ist uns bewusst, dass der Begriff der ‚Digitalität‘ mit unterschiedlichen Bedeutungen aufgeladen ist und durch seine Vagheit auf Widerspruch stoßen kann.
Unsere Impulsfragen bezogen sich vor allem auf digitale Forschungsmethoden, die Präsentation der Forschungsergebnisse, eine veränderte Wissenschaftskultur und Arbeitskultur sowie die Auswirkungen digitaler Forschung auf die Lehre. Einige Autor:innen nennen diese Fragen in ihrem Text explizit, andere nicht.
In ihren Texten gehen die Autor:innen unter anderem auf den von uns naiv-provozierend gewählten Begriff Digitalität als „Verlegenheits-Sammelbegriff“ für „irgendwas mit Computer“ (Fabian Moss) ein, wobei eigene interessante Begriffsklärungen entstehen. Ist denn der Begriff der ‚Digitalen Musikwissenschaft‘ wirklich nur auf die Historische Musikforschung zu beziehen, wie mehrere Autor:innen anmerken, weil in den anderen Disziplinen das digitale Arbeiten selbstverständlich ist? Tatsächlich sind es häufig historisch arbeitende Projekte, die wir in ihrer Ausrichtung bezüglich Repositorien, Standards und Datenmanagement beratend begleiten.
Während sich alle Autor:innen darüber einig sind, dass digitale Methoden und digitale Kompetenz stärker in der Lehre verankert sein sollten, wird unter anderem beklagt, dass die Musikwissenschaft unter „Digitalisierung noch zu häufig und vorschnell ,dasselbe noch einmal machen‘“ verstehe (Julian Caskel). Aber auch die verbindenden Dimensionen und Chancen von digitaler Wissenschaft werden thematisiert, beispielsweise in der konkreten Vision einer „musikethnologische[n] digitale[n] Plattform, die gemeinschaftlich von Beforschten und Forschenden betrieben“ wird und in der „das digitale Verhältnis zwischen musikalisch-künstlerischen Akteur:innen, Forschenden und Informationswissenschaftler:innen […] prototypisch neu konfiguriert“ würde (Samuel Mund).
In Bezug auf die sich wandelnde Wissenschaftskultur konstatiert Martin Pfleiderer: „Forschen im Team wird zur Regel“. Damit einher gehen „Anforderungen an die Wissenschaftler:innen, ihre Forschungsdaten in einer Form zu präsentieren, die für Andere nachvollziehbar ist und durch die Daten für Andere nutzbar werden.“ Genau dieser Anspruch an die Forschungsdaten wird in den FAIR-Prinzipien formuliert: Sie besagen, dass Daten, die bei der Forschung entstehen, ihr Potenzial und ihre Sinnhaftigkeit erst dann entfalten, wenn sie auffindbar, zugänglich, wiederverwertbar und interoperabel sind. Diesen Prozess hin zu Teamplaying, dem Teilen der eigenen Forschungsdaten im Sinne der FAIR-Prinzipien und Transparenz im wissenschaftlichen Arbeiten zu unterstützen, sehen wir als eine der Aufgaben von NFDI4Culture an.
Wir freuen uns sehr über die Bandbreite der Beiträge und möchten explizit dazu ermuntern, zu kommentieren und sich damit an dieser Debatte zu beteiligen.
Zu den Personen: Desiree Mayer und Martha Stellmacher sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen von NFDI4Culture an der SLUB Dresden.
Zu den Texten
- Frank Hentschel, Digitale Methoden: Chancen, Implikationen und Kritik der Kritik
- Fabian C. Moss, Vorsicht, Sackgasse! Ein Plädoyer für mehr Intradisziplinarität
- Martin Pfleiderer, Perspektiven einer datenbasierten und computergestützten Musikforschung
- Julian Caskel, Digitale Interpretationsforschung: Tautologie oder bleibende Herausforderung?
- Samuel Mund, Umbrüche. Ein Plädoyer für digitale Selbstbefähigung
- Corinna Herr, Musik in der digitalen Ära
- Klaus Frieler, Jedem seine eigene Suppe
[1] NFDI4Culture wird gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 441958017.
[2] Bei unseren Anfragen haben wir im Hinblick auf Gender eine ausgewogene Beteiligung von Wissenschaftler:innen angestrebt, die leider nicht zu Stande gekommen ist.
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