Jedem seine eigene Suppe

Digitalität ist eine Hilfsmethode und erzeugt an sich noch keinen Erkenntnisgewinn. Dieser hängt von den Forschungszielen und den fachwissenschaftlichen Methoden ab. Deswegen schreiben sich, gut beobachtbar, die intradisziplinären Grenzen in der Musikwissenschaft auch im Digitalen weiter fort. Und ich sehe keinen Anlass, anzunehmen, dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern wird.

Digitale Methoden haben selten einen direkten Mehrwert, denn fast alles ließe sich auch analog umsetzen und wurde meistens auch schon analog umgesetzt. Der Aufwand ist im Analogen allerdings oft ungleich höher, das heißt, bestimmte Dinge, wie etwa Klangfarben- und Interpretationsforschung oder Korpusstudien lassen sich ohne digitale Unterstützung kaum praktikabel durchführen, zumindest nicht im großen Stil. Digitalität bietet zunächst quantitative Vorteile, die aber in qualitative umschlagen können. Insofern ist sie ein Ermöglicher – aber kein Allheilmittel. Zudem herrscht ein gewisser allgemeiner gesellschaftlicher Imperativ der Digitalität, der auch vor der Musikwissenschaft nicht Halt macht, und dem man sich stellen muss.

Vor der weiteren Diskussion sind aber vielleicht ein paar Worte zu der hier verwendeten Nomenklatur angebracht, denn die Begriffslage ist unklar. Die Bezeichnung Digitale Musikwissenschaft würde ich für z. B. meine eigene Arbeit nicht unbedingt verwenden, da diese im deutschen Sprachgebrauch mittlerweile fast gleichbedeutend mit digitaler Historischer Musikwissenschaft ist.[1] Meine persönliche Herangehensweise bezeichne ich meistens als computergestützte Musikwissenschaft bzw. Musikpsychologie. Dies ist allerdings eine leicht inadäquate Übersetzung des Englischen Computational Musicology, der insofern besser ist, als dass er den Begriff der Berechnung („Computation“) beinhaltet, der auf algorithmische und statistische Analysen verweist. Es geht dabei nicht primär um neue digitale Darstellungs- und Speicherverfahren, vielmehr steht die Analyse im Vordergrund, meist um musikpsychologische Fragen zu klären (z. B. statistisches Lernen modelliert mit Hilfe von Korpora).

Die verwendeten Methoden rücken Computational Musicology näher zum Music Information Retrieval (MIR), einer weiteren, recht jungen Disziplin, die sich nicht als digitale Musikwissenschaft versteht, sondern meistens als Teil der Informatik. Die ultimativen Ziele der Analysen in MIR und Computational Musicology sind verschieden (anwendungsbezogen vs. Grundlagenforschung, Vorhersage vs. Erklärung).

Interessanterweise hat die rechnergestützte Musikethnologie erst in letzter Zeit durch Impulse aus dem MIR wieder an Bedeutung gewonnen (z. B. das CompMusic Project), obwohl man die Anfänge von digitaler Musikwissenschaft dort verorten kann, vielleicht, weil hier schon immer Korpora und Klassifikationsaufgaben eine wichtige Rolle spielten. So gab es schon in den 1940er Jahren Korpusanalysen von Volksliedern mit Hilfe von Lochkarten (Bronson 1949), was eine lange Tradition nach sich zog.

Der Vollständigkeit halber soll dann noch die Disziplin der Computermusik erwähnt werden (manchmal auch Musikinformatik genannt), deren Fokus aber auf der Produktion von Musik mit Hilfe von Computern liegt, deswegen nicht zur Musikwissenschaft gezählt wird, trotz methodischer Überschneidungen. Und dann gibt es noch den Bereich der digitalen Musikproduktion, die digitale Studio- und Aufnahmetechniken umfasst, und die wiederum andere Ziele und Aufgaben hat.

Anhand der vielen digitalen Disziplinen, die sich mit Musik beschäftigen, und die überraschend wenig Schnittstellen haben – methodisch und personell – und vor allem von den unterschiedlichen Mutterdisziplinen geprägt sind, zeigt sich die komplexe Landschaft von Musik und Digitalität.

Die wichtigste Schnittstelle aller digitalen Musikwissenschaften bilden aber Daten und Korpora sowie, in geringerem Maße, Softwarelösungen. Da diese aber von Anfang an von disziplinären Desiderata geprägt sind, lassen sich oft Korpora und Softwarelösungen der anderen Subdisziplinen nicht oder nur schwer in der eigenen Arbeit benutzen. So sind z. B. digitale Editionen von Werken in Westlicher Klassischer Musiknotation (Common Western Music Notation, CMN) notwendiger Weise an Notation orientiert, bedürfen also im Grunde grafischer Beschreibungssprachen, die oft für die analytische Nutzung eher ungeeignet sind, da die relevanten musikalischen Parameter nur indirekt oder in einem Wust grafischer Informationen verborgen sind. Auf der anderen Seite stehen Formate, die Performance-orientiert sind, die etwa nur die Anfangszeiten und Tonhöhen notieren oder nur sogenannte „pitch tracks“, wie sie bei der automatischen Transkription nicht notierter Musik anfallen. Dazwischen gibt es viele weitere Formate mit verschiedenen Ausdruckstärken, die oft nur von einigen Wissenschaftlerinnen*[2] erfunden und benutzt werden.[3]

Einen Vorsprung, den die digitale (historische) Musikwissenschaft derzeit zu haben scheint, sind deswegen Normierungs- und Standardisierungsbestrebungen für Repräsentationsformate (MEI, MusicXML), Dies lässt sich zum Teil auf den wesentlich einheitlicheren Forschungsgegenstand (CMN) zurückführen, das heißt ist unmittelbar eine Folge der Standardisierungsprozesse der Notation in der westlichen Musiktradition.

Viele andere Korpora (z. B. Jazzsoli, wie in der Weimar Jazz Database, oder Aufnahmen karnatischer klassischer Musik des CompMusic-Projekts) verlangen nach spezialisierten Lösungen und Darstellungsformen. Die zahlreichen Speziallösungen und vielfältigen digitalen Formate, die sich auf dem Gebiet der verfügbaren Software spiegelt, behindert die Interoperabilität, darunter leidet vor allem die vergleichende Forschung.

Ein weiteres Problem, das aber in der (historischen) digitalen Musikwissenschaft nicht so prävalent zu sein scheint, sind Urheberrechtsfragen. Das betrifft vor allem die digitale Popularmusikforschung. Deswegen gibt es keine frei verfügbaren Korpora mit historisch relevanter Popularmusik. Die wichtigste existierende Musikform ist damit der universitären Forschung nur beschränkt zugänglich. Prinzipien wie FAIR lassen sich hier niemals vollständig umsetzen.

Die einzigen, die über derlei Korpora verfügen, sind die großen Streamingdienste, bei denen vielleicht sogar der Großteil aller digitaler Musikforschung stattfindet (Zahlen liegen leider nicht vor), wobei diese aber meist ökomischen Verwertbarkeitskriterien folgen und somit Unternehmensgeheimnis bleiben. Nur manchmal finden Dinge aus den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen der großen Anbieter (Spotify, Apple, Amazon Music, Deezer, Pandora, TikTok) den Weg nach außen und lassen sich für die wissenschaftliche Musikforschung nutzen. Digitale (historische) Musikwissenschaft spielt dort aber kaum eine Rolle, da die klassische Musik als Produkt selbst keine große Rolle am Markt spielt.

Ein weiteres gemeinsames Thema (vielleicht auch Problem) digitaler und rechnergestützter Musikwissenschaft ist die Ausbildung des Nachwuchses. Programmierung und allgemeine Methoden der Datenverarbeitung, ganz zu schweigen von Statistik und Machine Learning, gehören nicht zur Grundausbildung in der Musikwissenschaft. Aufgrund der Stofffülle würde ein einsemestriger Pflichtkurs oder etwas in der Art hier nicht viel helfen, wäre aber ein erster Schritt. Digitale Methoden sollten auf kurz oder lang aber zum Standardrepertoire musikwissenschaftlichen Arbeitens – gleich welcher Ausrichtung – gehören. Die Frage ist aber, wie viel Computer- und Datenverarbeitungswissen tatsächlich notwendig ist. Um Noten in MEI zu kodieren, ein Webinterface oder eine Stand-Alone-Anwendung wie Sonic Visualiser zu bedienen, bedarf es nicht unbedingt der Beherrschung einer Programmiersprache. Zumal man die Programmierung komplexer Tools meistens den Fachleuten und Profis überlassen will.

Zudem fehlen oft Personen mit entsprechender Expertise (bzw. Positionen), um flächendeckend Computerkurse im Musikwissenschaftsbereich anbieten zu können. Wie oft hängt es am Ende am Personal – und an der Personalpolitik. Der einzige Weg, die Digital Musicology Literacy zu etablieren, wird wohl über die Einrichtung dedizierter Lehrstühle (oder zumindest Junior-Professuren) gehen müssen – am besten sogar zusammen mit entsprechenden Studienprogrammen. Ein Master in Digitaler Musikwissenschaft kann in Deutschland bisher nirgendwo gemacht werden, aber das ist vielleicht nur eine Frage der Zeit. Bis dahin müssen Selbststudium, Summer Schools und Training-On-The-Job hinreichen.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die intradisziplinäre Lage in der Musikwissenschaft hoffnungslos, aber nicht ernst ist. Daran wird auch die Digitalität nichts ändern. Jede Teildisziplin der Musikwissenschaft wird weiter ihr eigenes digitales Süppchen kochen, so meine Vorhersage. Ob mit mehr oder weniger Synergieeffekten, das wird sich herausstellen. Allerdings wäre es denkbar, dass es bei curricularen und personalen Fragen sowie bei der Vergabe von Fördergeldern zu Konflikten kommen könnte. Das sollte unbedingt vermieden werden. Hierbei könnte die gemeinsame Klammer Digitalität eine Brücke bilden, die durch intradisziplinären Austausch frühzeitig aufgebaut werden sollte.

Zur Person: Klaus Frieler ist Methodenspezialist am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt am Main.

Literatur

Bertrand H. Bronson, “Mechanical Help in the Study of Folk Song”, in: Journal of American Folklore, 62, 1949, 81–90.


[1] Man google nur den Begriff. Der englische Wikipediaeintrag zu „Computational Musicology“ hinwiederum sieht „Digital Musicology“ als Teilbereich derselben.

[2] Ich benutze im Text das inklusive generische Femininum.

[3] Der Autor bekennt sich hier schuldig im Sinne der Anklage.

2 Kommentare

  • Manfred Nusseck sagt:

    Sehr gelungener Beitrag. Vielen Dank.
    Ein schönes und aktuelles Beispiel eines digitalen „Ermöglichers“: der neue Beatles Song!

  • Falk Hartwig sagt:

    „Ein Master in Digitaler Musikwissenschaft kann in Deutschland bisher nirgendwo gemacht werden […]“

    Wozu auch? Sie sagen ja selbst: „Digitalität ist eine Hilfsmethode und erzeugt an sich noch keinen Erkenntnisgewinn.“

    Digital zu arbeiten sollte eine Hilfskompetenz und die digitale Maschine ein Werkzeug bleiben. Bartók oder Wiora z. B. haben mit ihrer Volksmusikforschung ‚Music Information Retrieval‘ betrieben. Und zwar war das digitales Arbeiten ganz ohne Computer. Es gibt zahllose weitere Beispiele. Heute kann man so etwas mit digitaler Hilfe in der Auswertung viel größerer Datenmengen freilich effektiver betreiben. Das Projekt Beethovens Werkstatt macht mit digitaler Hilfe sichtbar, was die Herausgeber von Notenausgaben, was die Editorik, seit „Ewigkeiten“ mit der Erforschung musikalischer Quellen tun. Die wissenschaftliche Arbeit ändert das aber nicht in ihren Grundsätzen.

    Aber klar – die Bezeichnung „Digitale Musikwissenschaft“ wird kommen und sei es nur als Label, das „Wettbewerbsfähigkeit“, dass man auch digital kann, signalisieren soll.

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