Vorsicht, Sackgasse! Ein Plädoyer für mehr Intradisziplinarität
Es ist eine Tradition in Texten zu „Digitalität” in der Musikforschung, gleich zu Beginn festzustellen, dass diese bereits seit vielen Jahren zum festen Bestandteil des musikwissenschaftlichen Methodenrepertoires gehört. Ebenso ist es üblich, darauf hinzuweisen, dass diese „neuartigen Methoden“ ein ungeahntes Potential für unsere Disziplin freilegen können/sollen/werden, und dass es sich deshalb lohnt, in sie zu investieren. Eine andere Texttradition hingegen verweist darauf, dass der bisherige Ertrag von computergestützten Methoden allenfalls als mäßig beschrieben werden könne. Der Nachweis erstens der Neuheit und zweitens des qualitativen Zugewinns algorithmisch oder statistisch erzeugter Resultate gegenüber händisch in Eigen- und Einzelarbeit erzeugten Erkenntnissen stehe noch aus.
Ich halte es selten für eine gute Idee, „das Neue” als herausragendes Merkmal darzustellen. Bekanntlich ist der Grad der Novität nur allzu schnell abgenutzt, wie es etwa bei der Neuen Musik (mit großem „N“) oder den neuen Bundesländern (mit kleinem „n“) der Fall ist. In diesem Beitrag möchte ich deswegen nicht grundsätzlich von „Digitalität“ als etwas Neuem ausgehen, sondern auf ihre möglichen Einwirkungen auf unser musikwissenschaftliches Tun schauen, insbesondere mit Blick auf methodische und curriculare Überlegungen. Dabei orientiere ich mich an vier Fragen, die mir dankenswerterweise als Vorbereitung auf diese „Debatte über die verschiedenen Aspekte der digitalen Musikwissenschaft“ zugesandt wurden.
Was fehlt in „der“ digitalen Musikwissenschaft bisher, um neue Erkenntnisräume aufzustoßen?
Neue Erkenntnisräume eröffnen sich nicht primär durch neue Methoden, sondern durch neue Erkenntnisinteressen und sich daraus ableitende Forschungsfragen. Selbstverständlich können diese wiederum neue Methoden inspirieren oder gar erforderlich machen. Demzufolge bedürfte eine digitale Musikwissenschaft vor allem einer Klärung ihrer Epistemologie sowie der Konsolidierung ihrer Methodik. Dies würde gleichzeitig auch die Bemühungen im Kontext von Infrastrukturen und Datenaufbereitung weiter befruchten, die derzeit stark im Fokus der digitalen Geisteswissenschaften stehen. Dass dies unabdingbar ist (und zwar für jegliche Forschung, gleich ob digital oder analog), sollte außer Frage stehen: Soll doch der Nährboden für musikwissenschaftliche Forschung nachhaltig bereitet werden.
Allerdings: Musikforschung ist zwar auch, aber eben nicht nur eine Geistes- und Kulturwissenschaft. Die Schwester-Teildisziplinen der historischen Musikwissenschaft befassen sich schon lange mit ähnlichen Fragestellungen. Ihre Quellen waren schließlich immer schon Daten und man könnte im intradisziplinären Austausch sicherlich viel voneinander lernen. Nur scheint es leider so, dass selbst bei überaus lobenswerten Entwicklungen wie NFDI4Culturenoch zu wenig auf vorhandene Expertise und Erfahrungen zurückgegriffen wird. „Die“ digitale Musikwissenschaft versteht sich eben im Grunde als mit historischen Quellen arbeitend. Wir befinden uns folglich in der kuriosen Situation, dass einerseits auf wissenschaftlich und technisch höchstem Niveau digital ediert wird, andererseits aber nahezu sämtliche Energie in diesem Arbeitsfeld aufzugehen scheint. Das Potenzial von „Digitalität“ wird damit aber nur in Ausschnitten ausgeschöpft und es böte sich an, hier nach neuen Synergien zu suchen.
Editionen, ob in analogen, digitalen oder hybriden Aggregatszuständen, stellen zweifellos einen sehr wichtigen Teil des Forschungsalltags der historischen Musikforschung dar. Die Implikationen für neue Forschungsräume sind daher klar: Bei der Datenaufbereitung müssten nicht nur die eigenen Forschungsfragen, sondern auch die potentielle Weiternutzung mitgedacht werden. Die Grundlagenforschung muss sich schließlich fragen lassen, wofür sie denn eigentlich den Grund legen will. Andernfalls würden Problematiken, wie etwa das Kanonproblem, bloß vom Papier auf den Bildschirm übertragen und man könnte sich zu Recht fragen, was denn dadurch gewonnen wäre. Gleichzeitig erfordert dies, dass Daten so offen wie möglich verfügbar sind. Wären z. B. sämtliche musikwissenschaftliche Editionen ohne Weiteres für musikinformatische Forschung zugänglich, so könnte diese von der hohen Datenqualität profitieren. Im Gegenzug würden sich Editionen eines deutlich breiteren internationalen Publikums erfreuen – von Zitationszahlen ganz zu schweigen. Dass die Editorik in diesem Szenario mehr ist als ein bloßer Datenzulieferer für Andere, ist auch klar, denn gerade philologische Fragen setzen ja die Quellen voraus.
Bietet die Digitalität Brücken über unsere bisherige Fächerteilung?
Jein. Erstens werden Begriffe wie „Digitalität“ oder “Digitalisierung“ häufig als Verlegenheits-Sammelbegriffe gebraucht, die bisweilen eher ein gewisses Unbehagen ausdrücken oder nur „irgendwas mit Computer“ zu bedeuten scheinen. Dass von digitalen Editionen und Dateninfrastrukturen über algorithmische Verfahren und Big Data bis hin zu Social Media und Online-Musikkulturen alles unter den Begriff „Digitalität“ fallen soll, kann einen eigentlich nur verwundern. Ähnlich wie „Systematik“ scheint „Digitalität“ in der Musikforschung negativ definiert zu sein: Erstere ist nicht-historisch, letztere ist nicht-analog. Mit einem solchen Begriff von „Digitalität“ kommt man aber kaum weiter. Ich plädiere deswegen dafür, ihn entweder nicht mehr zu gebrauchen oder aber zunächst eine klare Bestimmung vorzunehmen. Hier verstehe ich nun also „Digitalität“ als die Verwendung digitaler Methoden (insbesondere optische Musikerkennung und die Nutzung von Datenbanken) und algorithmischer Verfahren (inklusive der formalen Modellierung und des maschinellen Lernens). In diesem Sinne ist ein Brückenschlag über unsere Fächerteilung nicht nur möglich, sondern bereits vielerorts Wirklichkeit. Auf digital-kodierten Musikkorpora aufbauende musikanalytische Projekte sowie Kooperationen zwischen der Informatik und Musikforschung seien hier beispielhaft angeführt.
Dennoch behagt mir das Bild nicht ganz. Brücken zu schlagen bedeutet gleichzeitig auch Ufer zu verfestigen, sprich: die bestehenden intradisziplinären Grenzen zu vertiefen. Statt Brücken zu bauen sollten wir Gräben zuschütten und darüber aufeinander zugehen. Die „ganze Breite des Faches“, wie es die Stellenausschreibungspoesie häufig ausdrückt, könnte so tatsächlich befördert werden. Nun muss man ehrlicherweise auch sagen, dass „Digitalität“ dazu nicht zwingend notwendig ist. Dies kann ebenso gut mit Papier und Bleistift geschehen, da es im Grunde nicht um Methodik, sondern um Wissenschaftssoziologie geht: Nicht die „Digitalität“ an und für sich führt zu Umwälzungen von Wissenschaftspraktiken, sondern es sind Personen, die digitale Methoden entwickeln und anwenden. Es sind Communities of Practice,[1] in denen Wissen gemeinsam erzeugt, geteilt und anerkannt wird – über innerfachliche, institutionelle und nationale Grenzen hinweg.[2] „Digitalität“ befördert dies insofern, als dass sie sich unter solchen Bedingungen bestens entfaltet.
Die FAIR-Prinzipien zielen auf Nachnutzbarkeit und Interoperabilität von Daten, das bedeutet einen Wandel hin zum offeneren Teilen der eigenen Forschungsdaten. Wie verändert Digitalität unsere Zusammenarbeit?
Es kommt darauf an. Lässt man einmal die Einwirkungen von „Digitalität“ auf Verwaltung, Lehre, Wissenschaftskommunikation, und -organisation außer Acht, so ist ihr Einfluss auf Zusammenarbeit in der Forschung ja vor allem davon abhängig, ob diese kollaborativ oder individuell ausgelegt ist. Sollte „Digitalität“ eine Neuausrichtung der internen Fächergrenzen bewirken können (siehe oben), so wären neben den FAIR- auch selbstverständlich die CARE-Prinzipien zu berücksichtigen.[3] Digitale Musikforschung könnte sich dann mit derselben Selbstverständlichkeit einem verschollen geglaubten Autograph wie einem der Wissenschaft bis dato unbekannten Instrument einer indigenen Kultur nähern. Eine Konvergenz der Methoden wäre somit durchaus wünschenswert, da hier Standardisierung zu mehr Transparenz, Vergleichbarkeit und letzten Endes auch Kritikfähigkeit führt.
Wie kann man den wissenschaftlichen Nachwuchs auf digitale Forschung vorbereiten?
Programmierpflichtkurs im ersten Semester. Punkt. Dies bedarf vielleicht einer Erläuterung. Es liegt mir fern, Studierende der Musikwissenschaften künftig (besser: gegenwärtig!) zu Programmier*innen auszubilden. Ich meine etwas anderes. Es geht um musikwissenschaftliche Erkenntnis, aus welcher sich die Methodik herleiten und gegenüber welcher sie sich rechtfertigen lassen muss. Es ist bedauerlich, dass nicht hinreichend bekannt ist, wie fundamentale Wissenschaftskompetenzen und -ideale, wie etwa logisches Schlussfolgern, Klarheit in Definitionen, Konsistenz im Ausdruck, Nicht-Widersprüchlichkeit von Aussagen, aber auch die Modellabhängigkeit gültiger Aussagen und damit deren Kontextualität in geradezu idealer Weise durch Programmieren geübt werden können.
Es ist auch klar, dass diese Bildungslast nicht allein auf den Universitäten, geschweige denn der Musikforschung liegen kann. Während in den meisten europäischen Ländern Informatik zu den Kernfächern in der Grundschule (!) gehört[4] und durch „digital literacy“ die mündige Teilhabe an der in vielen Bereichen algorithmisch bestimmten modernen Gesellschaft ermöglicht wird, scheint es hierzulande dorthin noch ein weiter Weg zu sein. Erst im Studium damit anzusetzen, würde die digitale Alphabetisierung unserer Gesellschaft um eine weitere Generation verschieben. Willkommen im #Neuland! Möglicherweise kann eine gewisse Abhilfe im Rahmen von Wissenschaftspropädeutik und Studium Generale geschaffen werden. Eine Grundausbildung in statistischen Methoden, algorithmischen Verfahren und digitaler Datenkodierung würde jedenfalls „der gesamten Breite des Faches“ gut tun, da diese in sämtlichen Teildisziplinen zur Anwendung kommen. Man könnte sich so erstens methodisch auf eine gemeinsame Sprache berufen und zweitens zusätzliche Berufsperspektiven für unsere Studierenden auftun. In den klassischen Berufen für Musikforschende außerhalb der Universität hält „die Digitalität“ ohnehin noch schneller Einzug als innerhalb. Mit einer Studierendenschaft und einer (wachsenden) Lehrendenschaft mit hinreichend starken digitalen Kompetenzen wäre es tatsächlich möglich, besagte „neue Erkenntnisräume“ aufzustoßen und gleichzeitig das Fach für die Gegenwart zu rüsten.
Schlussgedanke
Meiner Ansicht nach könnte die Musikforschung eigentlich gut und gerne auf das Attribut „digital“ verzichten, vorausgesetzt, dass eine entsprechende flächendeckende Digitalkompetenz es überflüssig (weil selbstverständlich) macht. Es könnte dann weitaus treffender für jene Musikforschung benutzt werden, die nicht mittels digitaler Methoden auf Musik schaut, sondern sich mit genuin digitaler Musik befasst – ein Feld, das angesichts des rasanten Erfolgs großer Sprachmodelle noch reiche Ernte verspricht!
Zur Person: Fabian C. Moss ist Juniorprofessor für Digitale Musikphilologie und Musiktheorie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.
[1] Étienne Wenger-Trayner. Communities of Practice: Learning, Meaning, and Identity. Cambridge 1999.
[2] Für das Beispiel der Music Encoding Initative siehe: Emily M. Colucci. “The Music Encoding Initiative: Facilitating Open Access for Musical Notation”, in: Music Reference Services Quarterly, 26 (2), 63–83, https://doi.org/10.1080/10588167.2022.2123164
[3] Stephanie Russo Carroll, Edit Herczog,Maui Hudson, Keith Russell, Shelley Stall,“Operationalizing the CARE and FAIR Principles for Indigenous data futures”, in: Scientific Data, 8 (1), Article 1, https://doi.org/10.1038/s41597-021-00892-0.
[4] Felix Suessenbach, Eike Schröder, Mathias Winde, Informatikunterricht: Deutschland abgehängt in Europa. Eine Vergleichsstudie zu Informatik an Schulen in Europa. (Policy Paper im Auftrag der Heinz Nixdorf Stiftung und des Stifterverbandes), https://doi.org/10.5281/zenodo.7515985.
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