Umbrüche. Ein Plädoyer für digitale Selbstbefähigung

Welche Chancen, Herausforderungen oder Risiken sehen Sie in Bezug auf die Digitalität speziell in der Musikethnologie?

Grundsätzlich möchte ich zunächst bemerken, dass Digitalität im Sinne der flächendeckenden Verbreitung internetbasierter Technologien und damit einhergehender gesellschaftlicher Transformationsprozesse durch eine starke Unübersichtlichkeit gekennzeichnet ist (Stalder 2017). Unter den Begriffen a) Referentialität, b) Gemeinschaftlichkeit und c) Algorithmizität fasst Stalder wie folgt zusammen: a) zunehmend gemeinschaftlich produzierte (künstlerische) Praktiken und Prozesse; b) kommunale digitale Sphären (beispielsweise Sozialmedien, aber auch Wikipedia); c) umfasst schließlich die dafür nötigen technischen Grundlagen, deren Funktionsweisen und daraus resultierende Implikationen (algorithmische Resultate, nicht aber deren vorgelagerte mathematische Prozesse sind für Einzelne, aber auch Gruppen hinreichend verständlich).

Eine Chance für musikethnologische Aktivitäten böte in diesem Sinne und meiner Ansicht nach insbesondere die gezielte Teilhabe an solchen Technologien, die partizipative, interaktive und individuell gestaltbare Wissenszugänge ermöglichen und deren aktive und dauerhafte Förderung sicherstellen.

Nehmen wir als ein Beispiel eine fiktive musikethnologische digitale Plattform, die gemeinschaftlich von Beforschten und Forschenden betrieben, und mit Hilfe derer beispielsweise an einem gemeinsamen Medientext zu einem bestimmten musik-kulturellen Thema gearbeitet wird. Die Form stünde anfangs nicht zwingend fest, sie würde sich erst allmählich herausbilden. Das digitale Verhältnis zwischen musikalisch-künstlerischen Akteur:innen, Forschenden und Informationswissenschaftler:innen würde prototypisch neu konfiguriert. Auf diese Weise würden verschiedene Methodiken und Ontologien in Relation gesetzt und neu geordnet, und somit bestehende Epistemologien exemplarisch transformiert werden. Statt überwiegend schrifttextlichem, relativ streng geordneten Faktenwissen à la Wikipedia könnte in einem solchen exemplarischen Wissensspeicher die digitale Präsentation und Vermittlung musikalischen Wissens prinzipiell frei gestaltet werden – sowohl bezüglich des thematischen (und didaktischen) Einstiegs, der interpretativen Ausgestaltung sowie des Lernziels. Multiperspektivität würde als feature behandelt werden, Nutzer:innen der Plattform könnten deren Inhalte für den individuellen Gebrauch beliebig ordnen und neu verknüpfen. Weiterhin könnten Sprecher:innenrollen markiert und multiauktoriale Konzepte gefördert werden.

Im Sinne allgemeiner Praktiken der Digitalität böten die gezielte Förderung digitaler Literalität unter den Studierenden sowie digitaler Didaktik bei den Lehrenden eine weitere Chance. Die unüberschaubare Fülle möglicher digitaler Forschungsquellen kann nur eingeschränkt navigiert werden, für fundierte Recherchen bedarf es mehr als Fingerspitzengefühl. Neben tiefgreifenden Kenntnissen von Recherchemethoden sind beispielsweise kritische multimediale Quellenanalysefähigkeiten unabdingbar. Als weiterführende Konzepte seien hier kurz 8 C’s of Digital Literacy und 4K (Narr / Friedrich 2021) genannt. Angesichts der rasanten Fortschritte beispielsweise im Bereich des multimodal large language modeling (ChatGPT u. a.) sind Auslegungsfähigkeit und Quellenkritik eine essenzielle Grundlage für einen sicheren Umgang mit den riesigen Potentialen und Risiken des machine learning.

Übergreifend könnte mit solchen Ansätzen exemplarisch, aber auch weit über das Fach hinaus eine kommunale Digitalität mit einem besonderen Schwerpunkt auf der Herausbildung hermeneutischer Fähigkeiten gestärkt werden. Ein solcher Ansatz setzt meines Erachtens neben einer weitgehenden Öffnung von Bildungsressourcen eine grundsätzliche Diskussion über die Aufgaben der Wissenschaften im Sinne eines digitalen humanistischen Bildungsideals voraus (vgl. Deimann 2017).

Die Umsetzung solcher Ideen steht meines Erachtens (und neben den im vorangehenden Absatz skizzierten Grundsätzen) vor der Herausforderung der verschiedentlich ausgeprägten digitalen Literalität der involvierten Akteur:innen. Diese wird meiner Ansicht nach in den wenigsten akademischen Fächern, aber auch nicht in der primären und sekundären Bildung ausreichend gefördert. Der oben umrissene digitale Wissensspeicher stünde also, wenn seine Ausgestaltung möglichst selbstbestimmt sein sollte, vor den Hürden der technischen Umsetzung. Akademische wie nicht-akademische Akteur:innen eines solchen Projekts könnten vermutlich nur selten auf einschlägige Programmierfertigkeiten zurückgreifen, gebrauchsfertige Lösungen existieren nur eingeschränkt (und selten nicht-kommerziell), technische Infrastrukturen können überdies meist nur von großen institutionellen Akteuren dauerhaft bereit gestellt werden.[1] Neben einem verstärkten Dialog und einer aktiveren Mitgestaltung von informationswissenschaftlichen Prozessen wäre auch ein dauerhafter Dialog zwischen IT-Spezialist:innen und Musikethnolog:innen nötig.

Die Risiken sind immens. Zunächst sollten technische Lösungen insgesamt kritisch betrachtet werden. Bruno Latour spricht in Bezug auf Technologismus von „Skripte[n] nicht-menschlicher Akteure“ (Latour 2014), also von Handlungen von für Menschen unsichtbaren Hilfskräften. Inwieweit sind diese Hilfskräfte von uns kontrollierbar, welches Eigenleben entwickeln sie möglicherweise? Ethnographische und musikethnologische Forschung basiert häufig auf jahrelangen freundschaftlichen Verhältnissen zwischen musikalisch involvierten Personen und Forschenden, oft enthalten die resultierenden Materialien sensible und schützenswerte Angaben. Kaum ein:e Musikethnolog:e:in würde solche Materialien frei zugänglich und jenseits des eigenen Kontrollbereichs ohne Absprache hinterlegen. Andererseits nutzen nahezu sämtliche Forschenden digitale Geräte und Infrastrukturen für ihre Arbeit, deren jeweiligen Datenschutzrichtlinien nur wenigen bekannt sein dürften – die digitale Technologie ist gekommen, um zu bleiben. Risiken von Datenlecks und daraus resultierenden missbräuchlichen Verwendungsszenarien kann meines Erachtens nur durch eine stärkere Auseinandersetzung mit Digitalität im Sinne eines digitalen Empowerments gekontert werden. Somit stellen die Risiken die größte Herausforderung dar, nämlich die gleichberechtigte, ethisch kodifizierte Einbindung aller an musikethnologischer Forschung beteiligten Akteur:innen in digitale Kommunalitätsbestrebungen.

Inwieweit spielen die FAIR-Prinzipien in Ihrem Umgang mit Forschungsdaten eine Rolle? Vor welchen konkreten Herausforderungen steht man als Einzelwissenschaftler oder als einzelnes Projekt?

Die FAIR-Prinzipien spielen für meine Arbeit prinzipiell eine fundamentale, wenn auch wenig exponierte Rolle; bei der Administration digitaler Repositorien sind persistente Identifikatoren, strukturierte Datenbankzugänge und die Möglichkeit zum Metadatenexport essentielle Parameter, ohne die gewisse Daten nur schwer Anwendung finden könnten. Die so bereit gestellten Daten können grundsätzlich wiederverwendet werden, auch wenn potentielle Rechtsansprüche, vor allem aber ethische Grundsätze diese Möglichkeit einschränken. Dies kann beispielsweise dann ein Problem darstellen, wenn Prüfer:innen die Forschungsquellen zu einer schriftlichen Arbeit einsehen möchten, dafür aber kein Regelwerk existiert. Auch wenn mir persönlich ein solcher Fall noch nicht untergekommen ist, ist dies durchaus kein abwegiges Szenario. Einzelwissenschaftler:innen haben, insofern sie nicht mit einem Institut assoziiert sind, nur sehr begrenzte Möglichkeiten zur unmittelbaren FAIR-konformen Ablage von musikethnologischen Forschungsdaten. Projekte müssen zunehmend eine FD-Infrastruktur vorweisen, die oft nicht aus den Projekten selbst heraus realisiert werden kann und deren Fortführung nach Projektende unsicher ist.

Als Kritik an FAIR muss ich anmerken, dass diese musikethnologischer Forschung nur dann gerecht werden können, wenn sie durch die CARE-Prinzipien (https://www.gida-global.org/care) ergänzt werden, die Machtungleichheiten und historische Kontexte berücksichtigen, und die Rolle indigener communities (in einem erweiterten Sinne können dazu die meisten Beforschten gezählt werden) explizit berücksichtigen.

Was wäre ein Meilenstein für die digitale Musikethnologie und was fehlt hinsichtlich Content, Infrastruktur u. ä., um diesen Meilenstein zu erreichen oder um neue Erkenntnisräume aufzustoßen?

Ein Meilenstein für die digitale Musikethnologie wäre die Gründung eines regelmäßig tagenden Forums, in dem der oben angerissene Diskurs kritisch reflektiert wird und das in Folge Handlungsempfehlungen für den Umgang mit Forschungsdaten und -materialien ausspricht. Ein solches Forum bräuchte meines Erachtens eine programmatische Zielsetzung (beispielsweise inspiriert durch den oben skizzierten „Wissensspeicher“), diese sollte für die Beteiligung von möglichst vielen Interessent:innen leicht verständlich aufbereitet werden.

Zur Person: Samuel Mund ist Digital Humanities Manager am Europäischen Zentrum für Jüdische Musik der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover.

Literatur

Bruno Latour, Der Berliner Schlüssel, Berlin 2014.

Felix Stalder, Kultur der Digitalität, Berlin 2016.


[1] Die Gründe dafür mögen in einer starken Bindung von IT- und MINT-Fächern, allgemein mangelnder Vermittlung von ‚Algorithmizität‘ im primären und sekundären Bildungssektor, sowie einer tendenziellen relativen Technikferne der sozial- und geisteswissenschaften Fächer liegen.

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