Laut einer Studie des Musikinformationszentrums ist die Zahl der Studierenden im Fach Musikwissenschaft in Deutschland seit dem Jahr 2000 um 36 % gesunken. Dieser Trend ist alarmierend, gerade weil die Gründe dafür schwer festzumachen sind. Auf dem Weg der Ursachenforschung haben wir als Redaktion von musiconn.kontrovers vor einigen Monaten mit vier zum Teil gegenläufigen „Provokationen“ innerhalb der Fachgruppe Nachwuchsperspektiven der Gesellschaft für Musikforschung eine Debatte angeregt. Nun wollen wir diese Thesen auf musiconn.kontrovers einer breiteren Fachöffentlichkeit zur Diskussion stellen.

Es gibt Bücher über das Universum des Klingenden, die auf alles anwendbar zu sein scheinen, was in der menschlichen Wahrnehmung tönt, rauscht, wispert oder stottert: von der komponierten Musik über den Wind bis zu den Geräuschen der Motoren. Eine solche Schrift über den Klang und die Hörenden, die einen derart weiten Geltungsbereich beansprucht, stellt R. Murray Schafers The Soundscape: Our Sonic Environment and the Tuning of the World aus dem Jahr 1977 dar.

Die Einladung, die Blogserie Can the History of Music Theory Be Decentered?, die 2020 auf dem History of Music Theory Blog erschien, in deutscher Übersetzung auf dem musiconn.kontrovers Blog zu veröffentlichen, bringt eine interessante Herausforderung mit sich. Selbstverständlich gibt es wichtige Parallelen im deutschen und amerikanischen musiktheoretischen Diskurs, und die Perspektive, eine weiterführende Diskussion anzukurbeln, erscheint verlockend. Aber zunächst stehen ganz eindeutig die Eigenheiten der US-Kultur im Vordergrund, die ursprünglich zu diesen Überlegungen zu einer Dezentrierung geführt haben. Da wäre zuallererst die Black-Lives-Matter-Bewegung zu nennen, und praktisch im gleichen Atemzug die Regierung von Donald Trump, die in den vergangenen Jahren in den USA den politischen und kulturellen Ton gesetzt hat. Sicherlich nicht zu Unrecht hat Ta-Nehisi Coates Trump provokant als Amerikas „ersten weißen Präsidenten“ bezeichnet – als den Nachfolger Obamas nämlich, der sich ganz ausdrücklich (und nicht nur unter der Hand) um die Belange seiner vorwiegend weißen Wählerschaft kümmerte.

Kritik und Krise teilen sich die Wortherkunft, nämlich griechisch krínein mit den Bedeutungen „scheiden“, „sondern“, „sichten“, „unterscheiden“. ‚Krise‘ etabliert sich als medizinisches Fachwort in der Frühen Neuzeit zur Bezeichnung der Phase einer Infektion, in der sich die Krankheits­ab­wehr ereignet und sich ein positiver oder negativer Ausgang des Geschehens entscheidet. Auch die ‚Kritik‘, die aus einer recensio, aus der Musterung eines Erzeugnisses hervorgeht, führt zu einer Entscheidung, in diesem Falle über den qualitativen Wert der Sache. Wer re­zen­siert, konkret, wer die Rezension eines musik­wissen­schaft­lichen Produkts vornimmt, prüft nach in der Regel verbreiteten und akzeptierten Kriterien dessen Form und Inhalt in der Ab­sicht, einen Befund zu erheben, aus dem sich eine Einschätzung von Rang und Bedeutung des Produkts ergibt.

RIDE ist ein peer-reviewtes Online-Journal für wissenschaftliche Rezensionen, das auf Digitale Editionen und Ressourcen spezialisiert ist. In mittlerweile vierzehn Bänden setzen sich die Rezensent*innen mit den digital publizierten Erzeugnissen geisteswissenschaftlicher Editionsvorhaben, Textsammlungen und Toolentwicklung auseinander. Fachlich besteht eine durchaus erwünschte Vielfalt, während in Themenbänden systematisch vergleichbare Gegenstände rezensiert werden (z. B. Briefeditionen). Unter den bislang 75 Rezensionen befasst sich immerhin eine Handvoll mit musikwissenschaftlichen Projekten, so dass die Frage angemessen erscheint, welche Rolle RIDE für die Musikwissenschaft aktuell spielt oder in Zukunft spielen könnte.

Rezensionen sind Teil des Wissenschaftsbetriebs: Sie informieren über Neues, bewerten dessen Qualität und tragen damit zu dessen Sichtbarkeit und zur Reputation der rezensierten Autor:innen bei – und somit auch etwas zum Fortbestand des Betriebs. Nicht selten gliedern sie sich sogar in ihren Einleitungssätzen selbst in diesen Betrieb ein. „Das Thema XY hat in der Forschung der vergangenen Jahrzehnte immer stärkere Aufmerksamkeit erfahren …“, heißt es dann ungefähr, als ob schon die bloße Tatsache, dass Forschung zu etwas stattfinde, diese Forschung selbst und damit auch die zu besprechende Neuerscheinung (und deren Rezension) legitimiere.

Wenige Namen sind bei den zahlreichen Re-Lektüren von Carl Dahlhaus in den vergangenen Jahren so häufig gefallen und haben doch so wenig Aufmerksamkeit erfahren wie Georg Knepler. Trotz des Altersunterschieds von 22 Jahren durch sein beträchtlich längeres Leben ein Zeitgenosse von Dahlhaus, war der 1906 in Wien geborene und seit 1949 in Berlin (Ost) beheimatete Musikforscher dort erst Rektor der Deutschen Hochschule für Musik und dann von 1959 bis zu einer Emeritierung 1970 Direktor des Musikwissenschaftlichen Instituts an der Humboldt-Universität zu Berlin. Selbst noch Student solcher Größen wie Guido Adler und Egon Wellesz, stand dem gebürtigen Österreicher und Sohn eines schriftstellerisch bemühten Verlegers als Klavierschüler Eduard Steuermanns eine Karriere bevor, die jüdische Identität und politisches Engagement in der KPÖ unmöglich machen sollten: Gleich 1933 ereilte Knepler in Deutschland ein Auftrittsverbot, nachdem er dort als Pianist und Kapellmeister bereits einige Erfolge verbuchen konnte. 1934 befindet er sich schon in England in der Emigration, aus der er 1946 zunächst in die alte Heimat zurückkehrte, bevor es ihn endgültig in die DDR ziehen sollte.[1]

Honoré Daumier, La promenade du Critique influent, Lithographie, National Gallery of Art Washington (public domain).

Rezensionen sind aus dem Wissenschaftsbetrieb nicht wegzudenken. Sie waren fester Bestandteil des Musikschrifttums, noch bevor sich die Musikwissenschaft im universitären Fächerkanon etabliert hatte, und sind bis heute ein Grundpfeiler der musikwissenschaftlichen Debattenkultur. Wenn (oder falls) die Monographie, wie noch häufig postuliert wird, im Fach nach wie vor den “Goldstandard” wissenschaftlichen Arbeitens darstellt, dann darf die Rezension als seine Waage gelten. Sie erlaubt und erleichtert die Verbreitung von Thesen, die in Buchform nur zögerlich oder nur ausschnittsweise zur Kenntnis genommen würden.

Die kunstvolle Kritik lässt ihre Wirksamkeit spüren, indem sie literarisch einen Standard anspielt, der auch von dem dann in der Regel verrissenen vorliegenden Werk hätte erreicht werden können oder müssen. Soviel „Kunstrichter“ lauert in der Ikonologie des Rezensionenschreibens: Auch würdigende oder panegyrische Kritiken heben sich meist einen Urteilsrest auf, eine kleine Dreingabe, und geht es darum, eine Weitsicht des rezensierten Buchs aufzudecken, eine Anschlussmöglichkeit, die der Autorin oder dem Autor selbst möglicherweise zu wenig aufgefallen ist.